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© dpa

Bildung: Gesamtschule statt G 8

Mehr Zeit zum Lernen: Neue Vielfalt entschärft den Streit ums Turbo-Abitur. Doch nehmen wirklich alle Schüler und Eltern das achtjährige Gymnasium gelassen hin?

Ausgerechnet die bei Konservativen verpönte Gesamtschule hat in Hessen das achtjährige Gymnasium gerettet. Das beste Beispiel dafür ist die Clemens-Brentano-Schule in Lollar, nördlich von Gießen. Drei ihrer Jahrgänge strebten schon das um ein Jahr verkürzte Abitur an, mit dem neuen Schuljahr kehrten sie alle auf den neunjährigen Weg zurück. Die Schule nutzte eine vom Land eröffnete Umkehrmöglichkeit für Gesamtschulen, nachdem sich die letzten G-8-Fans unter den Eltern mit ihren Kindern an ein nahes Gymnasium verzogen hatten. 44 von 115 möglichen Gesamtschulen haben das Turbo-Abitur so bereits wieder abgewickelt. Hessens Landespolitik feiert die Wahlmöglichkeit für Gesamtschulen als neue Freiheit. Politisch wirkt sie wie ein Ventil, durch das der Protestdruck entweicht.

Michaela Kramer-Schwarz, Vorsitzende des Kreiselternbeirates in Offenbach, sagt über das Gesamtschul-G-9: „Wir können ja dankbar sein, dass wir diese Möglichkeit noch haben.“ Die Offenbacher Eltern waren 2007 eine Keimzelle des bundesweiten Protestes gegen das Turbo-Abitur. Wut über lange Schultage und überforderte Kinder beherrschte die Schlagzeilen. Anfang 2008 verlor die Hessen-CDU nicht zuletzt wegen des Unmuts eine Landtagswahl. Doch der letzte Eintrag auf der Offenbacher Protestseite im Internet datiert vom April 2008. Neue Töne bestimmen inzwischen die Debatte. In Baden-Württemberg gibt es Schlagzeilen wie „Schüler nehmen G8 gelassen hin“ oder „G8 ist gar nicht so schlimm“.

Das liegt zum einen daran, dass die Regierungen unter dem Druck das Turbo-Abitur nachbesserten. Es gibt vielerorts einfach weniger Hausaufgaben. Und Baden-Württemberg erklärte, alle Gymnasien können nun Ganztagsschulen werden. Die Lehrpläne wurden so stark entschlackt, dass es bald Klagen gab, NS-Zeit (Bayern) oder Ökologie (Hessen) kämen zu kurz. Zum anderen wirkt die Macht des Faktischen. Das Turbo-Abitur ist in allen Bundesländern eingeführt. In Berlin erreichen die ersten G-8-Schüler dieses Schuljahr die 10. Klasse.

Zudem rüstete die einst vom Protest unvorbereitet getroffene Kultusbürokratie mittlerweile auf. NRW-Kultusministerin Barbara Sommer (CDU) flutete zum Start des neuen Schuljahres die Klassenzimmer mit 400 000 Broschüren – Titel „Schulzeitverkürzung gelingt“. Sommer sagt, trotz G8 wechselten mehr Grundschüler aufs Gymnasium. Betrug die Übergangsquote 2004 noch 36,5 Prozent lag sie 2008 bei 38,6. Der Abi-Schnitt verbesserte sich von 2007 bis 2009 von 2,6 auf 2,53. Und die Quote der Sitzenbleiber fiel in sieben Jahren von 3,9 auf 1,5 Prozent.

Auch Hessen hat Erfolge vorzuweisen: Dort schnitten beim Mathematik-Wettbewerb des Landes G-8-Schulen besser ab als die G-9-Konkurrenz. Im Saarland erreichte ein Turbo-Abiturient gar die Höchstpunktzahl, was in zehn Jahren zuvor nur zwei Schülern gelungen war. Beim Abi-Durchschnitt waren die G-8-Schüler im Saarland nur ein Hundertstel schlechter als Abiturienten, die ein Jahr länger gelernt hatten. Der Philologenverband in Nordrhein-Westfalen erklärt, zwei Drittel der Eltern unterstützten heute das G8.

Natürlich ist der Unmut nicht ganz verpufft. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wettert weiter gegen den „Zeitraub an jungen Menschen“. Elternvertreter im Saarland verweisen auf eine Umfrage unter 1720 Schülern, nach der G-8-Schüler mehr Nachhilfe in Anspruch nehmen, mehr Zeit für Hausaufgaben verwenden und öfter unter Stress leiden. Beim Bildungsstreik 2009 flackerte das Thema noch einmal auf. In Baden-Württemberg haben kritische Mütter und Väter den landesweiten Verein „Schule mit Zukunft“ gegründet.

„Es ist nicht ruhiger geworden“, sagt die Stuttgarter Elternvertreterin Katharina Georgi-Hellriegel, „aber da ziemlich viel an den Schulen im Argen liegt, können wir nicht überall tätig sein.“ In Niedersachsen streben Braunschweiger Eltern ein Volksbegehren für eine Schulstrukturreform an. Aus 16 Kreisen und Städten des Landes haben Gleichgesinnte Unterstützung signalisiert. Doch auch hier mobilisiert nicht mehr ein plumpes Nein gegen G8. „Wir sind nicht grundsätzlich gegen die Verkürzung der Schulzeit. An einzelnen Orten klappt das prima“, sagt Initiatorin Regina de Rose. Nötig sei mehr Geld und dass Schulen zwischen G8 und G9 wählen könnten.

Solche Alternativen gibt es inzwischen in vielen Ländern: In Berlin, Brandenburg oder dem Saarland bleibt es an Gesamtschulen bei G9. In Bremen bieten neue Oberschulen den längeren Weg zum Abitur, in Baden-Württemberg und Bayern Berufs- und Fachgymnasien. In Hessen gibt es jetzt Gesamtschulen, in denen lernen manche Klassen nach G8, andere nach G9, je nach Votum der Eltern.

Schon warnt der Philologenverband in Nordrhein-Westfalen vor einem Organisationschaos. Die GEW macht die Schnittstellen zwischen den Schulen unterschiedlicher Geschwindigkeit als neue Problemzone aus. Bislang galt dies vor allem für Haupt- und Realschüler, die auf das Gymnasium wechseln wollten. Die Wahlfreiheit für Gesamtschulen schafft in Hessen nun massenhaft G-8- und G-9-Schüler, die vor dem Zentralabitur wieder synchronisiert werden müssen.

Hessen wird darum nach Angaben des Kultusministeriums ab dem nächsten Jahr nur noch ein Übergangsprofil zur Oberstufe definieren, bei „dem nicht mehr nach G8 und G9 unterschieden wird“. Die Clemens-Brentano-Schule in Lollar nutzt die neue Freiheit für ein eigenes Modell: Sie kehrt zwar in der Mittelstufe zu G9 zurück. Ab Klasse zehn bietet sie dann neben dem langsamen Weg zum Abitur auch eine schnelle Abkürzung. In einer Profilklasse erhalten die Schüler bis vier Stunden Unterricht mehr in der Woche und überspringen eine Stufe.

Die neue Vielfalt nimmt Eltern den Druck, weiter den Aufstand zu proben. „Wenn wir das ehrlich betrachten, was haben Sie als Vater oder Mutter für eine Möglichkeit?“, fragt Elternvertreterin Schwarz. Am Ende heiße es jetzt eben, sich mit seinem Kind durch G8 zu beißen oder eine Gesamtschule zu wählen.

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