zum Hauptinhalt
Trauer und Anteilnahme in Newtown sind groß.

© dpa

Bluttat an Sandy-Hook-Grundschule: Kann Autismus den Amoklauf verursacht haben?

Noch immer gibt es im Zusammenhang mit den Motiven des Amokläufers fast nur offene Fragen. Schnell wurde spekuliert, der Täter habe womöglich am Asperger-Syndrom gelitten. Was ist dran an den Vermutungen - und spielt das für die Tat überhaupt eine Rolle?

Warum? Das werden sich viele als Erstes gefragt haben, als sie von dem Amoklauf des 20-jährigen Adam Lanza in einer Grundschule in Newtown im amerikanischen Bundesstaat Connecticut erfuhren. In einem offenbar kaltblütig geplanten Vorgehen ermordete Lanza zunächst seine Mutter und danach 20 Schüler und sechs Lehrkräfte in der Sandy-Hook-Grundschule. Dann tötete er sich selbst. Schon bald nach der Tat kamen bislang unbestätigte Vermutungen auf, nach denen der als schüchtern und isoliert beschriebene Lanza autistisch gestört gewesen sei und womöglich am Asperger-Syndrom gelitten habe. Die Warum-Frage schien für viele eine Antwort gefunden zu haben.

Asperger gilt als „leichte“ Form von Autismus. Es handelt sich um eine Entwicklungsstörung, die sich bereits in jungen Jahren ausprägt. Menschen mit Asperger fällt es schwer, mit anderen in Kontakt zu treten. Zugleich haben sie eher eingeschränkte oder als stereotyp beschriebene Interessen, ohne dass ihre Intelligenz eingeschränkt wäre. Diese kann sogar deutlich über dem Durchschnitt liegen. Diese Eigenschaften trafen anscheinend auf Lanza zu, der als sozial unbeholfen und zugleich als hochintelligent beschrieben wird.

Allerdings machen Schüchternheit und ein hoher IQ einen Menschen nicht zum Massenmörder. Doch zusätzlich wurde darüber spekuliert, dass mangelndes Einfühlungsvermögen und soziale Kälte, wie sie Menschen mit autistischen Störungen zugeschrieben werden, den emotionalen Hintergrund der Tat geliefert hätten. Aber diese Erklärung wirft mehr Fragen als Antworten auf.

Emily Willingham, Mutter eines elfjährigen Sohnes mit Asperger-Syndrom, weist im Internet-Magazin „Slate“ auf einen feinen, aber wesentlichen Unterschied im Einfühlungsvermögen hin. Menschen mit einer autistischen Störung fällt es schwer, die Gefühle ihrer Mitmenschen zu „lesen“. Das heißt aber nicht, dass sie keine Empathie besitzen würden, schreibt Willingham. Im Gegenteil. Sie berichtet von ihrem Sohn, der, als er von dem Amoklauf erfuhr, nach einer langen Phase der inneren Besinnung in Tränen ausbrach.

Als genaues Gegenteil erscheint der Psychopath. Er hat keine Schwierigkeiten, die Gefühle seiner Mitmenschen zu erahnen, und wird nicht zögern, sie für seine Zwecke auszubeuten. Denn ihm fehlt tatsächlich nahezu jedes Mitgefühl. Als Prototyp des Psychopathen gilt der eiskalte Killer. Auch auf Diktatoren wie Adolf Hitler dürfte das Etikett Psychopath meist zutreffen. Sie verstehen die Motive anderer Menschen und manipulieren sie ohne Skrupel für ihre eigenen Zwecke. Jemand mit einer autistischen Störung wäre dazu nicht im geringsten imstande. Weshalb die Behauptung mancher Forscher, auch Hitler habe Asperger gehabt, mehr als umstritten ist.

Die Kriminalitätsrate bei Autisten sei geringer als in der Normalbevölkerung

Mitgefühl. Gedenken an die Opfer des Amoklaufs von Newtown.
Mitgefühl. Gedenken an die Opfer des Amoklaufs von Newtown.

© AFP

„Fürchten Sie sich nicht vor Menschen mit Autismus – sie sind keine eiskalten Mörder“ schreibt Amy Lutz, Präsidentin der Easi-Stiftung, die sich um Menschen mit Entwicklungsstörungen kümmert, ebenfalls im Magazin „Slate“. Wenn es bei Individuen mit einer autistischen Störung zu einem Gewaltausbruch komme, dann sei dieser meist gefühlsbeladen und eruptiv. Und demnach alles andere als geplant und kalkuliert. Das bestätigt auch Jürgen Müller, Chefarzt der Asklepios-Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie in Göttingen. „Geschieht eine Straftat, dann meist aus der Situation, aus dem Affekt heraus“, sagt Müller. „Natürlich kann man aus einer Tat heraus nicht auf eine Diagnose schließen, aber der Amoklauf von Newtown wäre nicht typisch für Asperger.“

Die Kriminalitätsrate bei Menschen mit autistischen Störungen sei geringer als in der Normalbevölkerung, schreibt Amy Lutz. Dennoch gebe es eine kleine Gruppe unter Autisten, die meist schon in sehr jungen Jahren zu Gewaltausbrüchen neigte und die dauerhaft untergebracht werden müsste.

2008 legten die amerikanischen Psychiater Stewart Newman und Mohammad Ghaziuddin eine Auswertung von Studien zu Gewaltverbrechen und Asperger-Syndrom vor. Sie kamen zu dem Schluss, dass in der überwältigenden Zahl der Fälle die Täter zusätzlich psychisch krank waren oder eine gestörte Persönlichkeit besaßen. Diese zusätzlichen Probleme hätten das Risiko einer Straftat erhöht.

Noch immer gibt es im Zusammenhang mit den Motiven des Amokläufers fast nur offene Fragen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Lanza, falls er autistisch war, durch weitere tiefgreifende Störungen zu seiner Tat getrieben wurde. Es könnte auch gut sein, dass die ihm zugeschriebene Asperger-Diagnose nur das Resultat von Gerüchten und Spekulationen ist. Oder es könnte sein, dass die Diagnose zu Unrecht gestellt wurde, denn die Kriterien für das Vorliegen einer Asperger-Störung sind nicht klar umrissen und werden immer wieder neu diskutiert. Es gibt keinen Asperger-Bluttest.

Trotzdem droht nun, wie Selbsthilfe- und Elternorganisationen in den USA warnen, eine Stigmatisierung von Menschen mit Asperger. Und vielleicht nicht nur von diesen. Schüchternen, stillen, in sich gekehrten Schülern wird man möglicherweise misstrauischer begegnen. Wer weiß, welch finstere Pläne sie in ihrem Herzen bewegen. Und mancher Kritiker merkt an, dass die ganze Diskussion ein Ablenkungsmanöver ist. Denn in Wahrheit müssten die Amerikaner über eine bessere Kontrolle ihrer Schusswaffen diskutieren.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false