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Otto Dibelius. Der Bischof beim Kirchentag 1959. Er gilt als herausragende Figur des deutschen Protestantismus. Foto: picture-alliance/dpa

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„Der Prozess des Aussterbens geht schnell vor sich“: Das Wirken von Otto Dibelius muss neu bewertet werden

Als Berliner Bischof war Otto Dibelius sehr bekannt. Doch gerade seine Äußerungen in der NS-Zeit müssen neu bewertet werden.

Wenige Tage nach dem NS-„Judenboykott“ vom 1. April 1933 meinte der preußische Generalsuperintendent Otto Dibelius, im Evangelischen Sonntagsblatt grundsätzlich zur NS-Judenpolitik Stellung nehmen zu sollen. Jedes Kind in Deutschland, so schrieb er, kenne die Fülle der jüdischen Namen, die seit 1918 in der deutschen Politik hervorgetreten seien: Landsberg, Luxemburg, Heilmann, Hilferding. Und noch viel bekannter seien die Namen der Barmat, Kutisker, Sklarek und wie sie alle lauteten. Es könne kein Zweifel sein, meinte der Theologe, dass bei allen dunklen Vorkommnissen der letzten 15 Jahre das „jüdische Element“ eine führende Rolle gespielt habe.

Dagegen wende sich nun die Stimmung eines Volkes, das mit den Folgen der Revolution von 1918/19 aufräumen wolle. Deshalb fühle sich das Judentum bedroht und mache im Ausland Stimmung gegen das neue Deutschland. Wie zu Weltkriegszeiten zeige sich jetzt wieder, „wie unfreundlich die Welt im Grund des Herzens über Deutschland denkt“.

Herausragende Figur des Protestantismus

Otto Dibelius (1880-1967) gilt als herausragende Figur des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert. Seit1921 gehörte er der preußischen Kirchenleitung an. Viele unter den älteren Berlinerinnen und Berlinern werden sich an ihn vor allem wegen seiner Rolle nach 1945 erinnern: Als Berliner Bischof war er etwa als streitbarer Prediger gegen die kirchenfeindliche Religionspolitik der DDR bekannt, als Ratsvorsitzender der EKD stand er von 1949 bis 1961 an der Spitze des bundesdeutschen Protestantismus. Im Jahr 1958 wurde er sogar zum Ehrenbürger von Berlin ernannt.

Im „Dritten Reich“ verlor Dibelius zwar früh sein Amt. Doch angesichts von Äußerungen wie der im April 1933 erscheint eine gründliche neue Dibelius-Biografie überfällig. Und ebenso ein von Grund auf renoviertes Dibelius-Bild als Bestandteil einer zeitgemäßen kirchlichen Erinnerungskultur.

Dibelius über die „Judenfrage“

Die angelsächsischen Länder, so Dibelius im Arpil 1933 weiter, brächten für die „Judenfrage“ schwerlich Verständnis auf. Die „angelsächsische Rasse“ sei viel zu kräftig und zäh, um sich von jüdischer Zuwanderung schwächen zu lassen. In Deutschland sei das anders. Durch die Nähe zu den großen Rekrutierungsgebieten des Judentums in Galizien und in Polen sei das deutsche Volksleben durch allzu starken jüdischen Einfluss gefährdet. Diesen Unterschied begreife kein Engländer oder Amerikaner. Es seien bereits kirchliche Stimmen den ausländischen „Lügenmeldungen“ entgegengetreten.

„Schließlich hat sich die Reichsregierung genötigt gesehen, den Boykott jüdischer Geschäfte zu organisieren – in der richtigen Erkenntnis, dass durch die internationalen Verbindungen des Judentums die Auslandshetze dann am ehesten aufhören wird, wenn sie dem deutschen Judentum wirtschaftlich gefährlich wird.“ Das Ergebnis dieser Vorgänge werde eine Zurückdrängung jüdischen Einflusses im öffentlichen Leben sein. Dagegen werde niemand im Ernst etwas einwenden können.

Aber damit, so Dibelius weiter, sei die „Judenfrage“ noch nicht grundsätzlich gelöst. Zweierlei habe zu geschehen: Erstens müsse die deutsche Ostgrenze gegen jüdische Einwanderung gesperrt werden. Sobald die jüdische Einwanderung gestoppt sei, werde das Judentum in Deutschland zurückgehen. „Die Kinderzahl der jüdischen Familien ist klein. Der Prozess des Aussterbens geht überraschend schnell vor sich.“

Er verwendet den Rassebegriff

Zweites Erfordernis sei die „Festigung der eigenen Art, die einer fremden Rasse nicht erliegt. An dieser Festigkeit hat es im deutschen Volk immer gefehlt. Und es wird auch in Zukunft daran fehlen, wenn nicht christliches Gewissen die Verantwortung für das Volkstum, das Gott gegeben hat, zu einer Kraft im Leben jedes Einzelnen werden lässt.“

Was Dibelius hier ausführte, ging deutlich über christlich motivierten theologischen Antijudaismus hinaus. Er verwendet den Rassebegriff, spricht von kräftiger „angelsächsischer Rasse“ und qualifiziert indirekt das Judentum als „fremde Rasse“. Für die Deutschen reklamiert er eine „eigene Art“, und diese deutsche Art sei ein von Gott gegebenes „Volkstum“. Beflügelt vom politischen Umbruch seit dem 30. Januar 1933 äußerte sich der Theologe in der Sprache eines völkisch denkenden Deutschnationalen und brachte uneingeschränkte Sympathie für die NS-Judenpolitik zum Ausdruck.

Große Stunde am „Tag von Potsdam“

Dibelius' große Stunde schlug bereits Wochen zuvor anlässlich des „Tags von Potsdam“ (21. März). Neuere Forschungen haben erwiesen, dass der führende preußische Kirchenmann schon während der Planungen zu diesem staatspolitischen Großereignis maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung der Feier nahm. Während andere Kirchenführer Bedenken gegen eine Eröffnung des neu gewählten Reichstags in der Garnisonkirche vorbrachten, setzte sich Dibelius sofort für einen feierlichen Staatsakt in der preußischen Traditionskirche ein.

Am 5. März schrieb er im Parteiblatt der Deutschnationalen: „Der Gedanke, den neuen Reichstag in Potsdam, über dem Grab Friedrichs des Großen, zu eröffnen, hat einen lauten Widerhall gefunden. 1848 die Paulskirche, 1919 das Theater in Weimar, 1933 die Garnisonkirche in Potsdam – solche Symbole prägen sich dem Gedächtnis eines Volkes tiefer ein als alle Reden.“ Dibelius sah in dem Akt eine Chance, dass sich zwischen Staat und Kirche – im Gegensatz zur angeblich gottlosen Weimarer Zeit – nun wieder „ein enges organisches Verhältnis“ bilden könne.

Symbolpolitischer Gründungsakt des „Dritten Reiches“

Dibelius sprach zum symbolpolitischen Gründungsakt des „Dritten Reiches“ in der Nikolaikirche vor Reichspräsident Hindenburg und Ministern des „Kabinetts der nationalen Konzentration“: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ Der Prediger ermutigte die neue Regierung, gegen angebliche Feinde der staatlichen Ordnung hart vorzugehen. In Oranienburg wurde am gleichen Tag das Konzentrationslager der Hauptstadtregion eröffnet. Den Staatsakt in der Garnisonkirche erlebte Dibelius hautnah mit. Wenig später berichtete er im Sonntagsblatt: Würdig, ernst und eindrucksvoll seien Hitlers Worte gewesen.

Eigentlich liefen die Dinge recht gut für Dibelius im Frühjahr 1933. Mit der Grundrichtung des politischen Umbruchs war er einverstanden. Mitte Mai äußerte er große Freude über die nationalsozialistische Umprägung der einst roten 1. Mai-Feiern zum „Tag der nationalen Arbeit“. Dafür lobte er „Volkskanzler Hitler“ und pries das „geniale Organisationstalent eines Mannes, wie es Dr. Goebbels ist“.

Zum Festgottesdienst anlässlich des kurmärkischen Kirchentags Ende Mai lobte Dibelius in der Garnisonkirche den öffentlichen Wandel: der Schmutz sei von den Straßen verschwunden, der vergiftende Klassenhass von der Seele entfernt. Am Altar hatten Fahnenträger der NS-Betriebszellen und des Stahlhelm Aufstellung genommen.

Kirchenpolitischer Stress

Aber es stellte sich auch kirchenpolitischer Stress ein. Nach Einsetzung eines NS-Staatskommissars für die preußischen Kirchen im Juni wurden sämtliche Generalsuperintendenten suspendiert, auch Dibelius. Mit einem Schlag rückten völkische Theologen der Deutschen Christen (DC) in kirchliche Leitungsämter ein und vollzogen eine Selbstgleichschaltung mit dem NS-Regime.

Dibelius konnte zwar noch einmal kurz in sein Amt zurückkehren, aber faktisch war er kirchlich ausgebootet. In dieser für ihn prekären Lage verfasste er ein anbiederndes Schreiben an die neuen DC-Kirchenführer – ein Schlüsseldokument für seine schwankende Haltung im Jahr 1933: Es sei doch untragbar, dass er als Generalsuperintendent in einer Kirche, die ein freudiges Bekenntnis zum neuen Staat abgelegt habe, als politisch unzuverlässig gelte.

Dibelius wollte etwas klarstellen

Um die unlauteren Angriffe gegen ihn zu korrigieren, wolle er nun seine tatsächliche Haltung klarstellen: Schon in seiner Studentenzeit habe er im Kampf gegen Judentum und Sozialdemokratie gestanden. Dieser Haltung sei er bis heute treu geblieben. Im Rhythmus und in den Zielen der DC habe er vieles gefunden, was seiner Arbeit und eigenen Zielen entspreche. Die Einsetzung des Staatskommissars habe ihn schließlich gezwungen, im Konflikt mit dem Staat für die Kirche Stellung zu beziehen. Es dürfe nicht sein, so schloss er, dass die Agitation eines kleinen Kreises ihn ohne Weiteres aus dem Amt entfernen und diffamieren könne.

Die DC im Kirchenregiment reagierten auf diese Anfrage um weitere Verwendung nicht. Faktisch war die große Welle der DC-Bewegung über Dibelius hinweggerollt. Im September erhielt er vom NS-Reichsbischof Müller sein Entlassungsschreiben. Bei den ersten Schritten einer Kirchenopposition gegen die Vorherrschaft der DC spielte er keine Rolle. An der Gründung des Pfarrernotbunds im September wirkte er nicht mit.

Innere Distanzierung während der Kriegsjahre

Nach Wochen des Abwartens zeichnete sich im Herbst eine Lösung ab: Kurprediger in San Remo. Offenbar suchte der entmachtete Kirchenführer eine kirchenpolitische Auszeit. Hermann Göring, so heißt es, hatte seinen Einfluss auf weitere kirchliche Verwendung des Generalsuperintendenten geltend gemacht. Zum 1. Dezember 1933 trat der Frühpensionierte sein Amt als Kurprediger in Italien an. Als Otto Dibelius am 3. Juni 1934 nach Berlin zurückkehrte, waren die Würfel im Kirchenkampf bereits gefallen.

Fortan half Dibelius bei der Bekennenden Kirche der Mark Brandenburg mit. Eine innere Distanzierung vom Regime stellte sich wohl während der Kriegsjahre ein, nicht zuletzt durch Augenzeugenberichte von Kurt Gerstein über den Judenmord im Osten. Aber auch dann war für ihn Widerstand gegen den Staat wegen Römer 13 und der neulutherischen Zwei-Reiche-Lehre nicht statthaft. Dibelius blieb im „Dritten Reich“ ein christlich-konservativer Kirchenmann, dessen religiöse Mentalität maßgeblich im späten Kaiserreich geprägt worden war. Völkische Sympathien und antisemitische Ressentiments gehörten dauerhaft dazu.

- Der Autor ist apl. Professor für Neuere Geschichte am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.

Manfred Gailus

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