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Unterricht: Der Glückskniff

Das Leben ist ein ständiger Vergleich – und das Gute stets woanders. Schlimm, dachte sich ein Heidelberger Lehrer. Nun unterrichtet er, wie man glücklich wird.

Eine Silbe, ein kurzer Tipp mit der Zunge am Gaumen, ein Schnalzen fast, ein leises Knacken. Ein Wort wie ein Schluck Wasser, ein Gurgeln, mit entschiedenem k am Ende. Glück.

Ein Maimorgen in Heidelberg, Nebel liegt im Neckartal, Ernst Fritz-Schubert lehnt an einem Holztisch und gestikuliert. Der Direktor der Willy-Hellpach-Schule blickt freundlich in eine Schweizer Fernsehkamera, die vor ihm steht. Er soll das Glück erklären. Ruhig spricht er, überlegt und mit einem Lächeln. Er hat das alles schon so oft gesagt.

Denn die das Glück suchen, die kommen früher oder später zu ihm. Und es kommen viele, denn die Zeiten werden schlechter. Erst Finanzkrise, jetzt Eurokrise, ein Staatspräsident verunglückt tödlich, Vulkanasche legt den Flugverkehr lahm, die Ölpest im Golf von Mexiko.

Glück ist ein Idealzustand, sagt Ernst Fritz-Schubert, weißes Haar und Schnäuzer, fröhliche blaue Augen. Nicht nur unkalkulierbarer Gefühlsausbruch im Augenblick, sondern etwas Beschreib-, Mess- und vor allem: Erreichbares.

Hinter Fritz-Schubert an der Wand hängt ein Poster. Es zeigt ein Segelschiff – und einen Spruch: „Warte nicht, bis das Schiff anlegt. Schwimme ihm entgegen.“ Glück, sagt also Ernst Fritz-Schubert, kann man lernen. Man kann es unterrichten. Man kann es sogar benoten. Genau das macht Fritz-Schubert seit zweieinhalb Jahren.

Glück ist an seiner Schule Unterrichtsstoff, Wahlpflichtfach für die gymnasiale Oberstufe, zusätzliches Angebot an der zweijährigen Berufsfachschule: vier Klassen derzeit, zwei Stunden pro Woche für jede von ihnen, montags und donnerstags, sechste und siebte Stunde.

An diesem Montag im Mai, um kurz vor eins, werden Dardan, 16, die Augen mit einem schwarzen Schal verbunden. In zwei Reihen stehen seine Mitschüler im Raum, zwischen ihnen eine schmale Gasse. Dardan hat Witze gemacht zuvor, herumgealbert und ein Brötchen gegessen, obwohl der Unterricht schon begonnen hatte und Essen verboten ist.

Jetzt soll er durch die Gasse laufen und erspüren: welche Seite lehnt ihn ab, welche mag ihn. Die anderen sollen es ihn fühlen lassen. Dardan wird ganz ruhig, konzentriert, macht einen Schritt vor, einen zurück, wieder einen vor. Es ist still im Klassenraum – er spürt die Zuneigung zu seiner Linken, die Ablehnung zur Rechten. „Ich hab auf mein Herz gehört“, sagt er danach.

Die gelernte Lektion fasst ein Mädchen zusammen: „Man kann spüren, in was für einer Stimmung eine Person ist.“ Fritz-Schubert ist zufrieden. Achtsamkeit, die will er lehren. Sich selbst gegenüber und anderen. Weil zum Glück nicht nur Selbsterkenntnis gehört, sondern das Erkennen des Selbst in Gemeinschaft.

Glück, das kurze Wort, soll an der Schule in seiner großen Ganzheit erfahren werden. Denn Glück wird nicht nur im Kopf empfunden, sondern auch durch den Körper. Durch produziertes Wohlgefühl, durch Erfolg, Belohnung, Hormone wie Dopamin, das auch Verliebte verzückt. Oder Endorphin, das Sportler euphorisiert.

Ernst Fritz-Schubert kennt das. Der Schulleiter ist auch Triathlet, fünfmal hat er schon am härtesten Wettbewerb dieser Sportart teilgenommen, dem Ironman: 3,86 Kilometer Schwimmen, 180,2 Kilometer Radfahren, 42,195 Kilometer laufen. Zwischen elf und zwölf Stunden benötigt er für das gesamte Rennen, die Weltbestzeit liegt bei sieben Stunden und 50 Minuten. Er kennt sich aus mit Körper und Geist – und weiß, dass die beiden oft im Clinch liegen. Auch während der Stunden im Wasser, auf dem Rad, auf der Straße. Wenn die Beine nicht mehr wollen und der Kopf trotzdem sagt „du schaffst das“. Und er es schafft.

Er hat es auch geschafft, das Baden-Württembergische Kultusministerium von seiner Glücks-Idee zu überzeugen. Knappe sechs Wochen dauerte es, bis sein „Fach“ – offiziell ein „schulisches Angebot im Wahlbereich“ – im Spätsommer 2007 genehmigt wurde. „Lebenspraktische Orientierungshilfe“ soll es sein. Und es soll helfen, so steht es im Lehrplan, „die Macht des Optimismus als Weg zu Glück und Erfolg zu begreifen“. Inzwischen unterrichten es an seiner Schule sieben Lehrer. Sie alle wollen den Jugendlichen auch den feinen Unterschied zwischen bloßer Arbeit und sinnvoller Tätigkeit vermitteln. Das sei ein Kernthema.

Durch Fritz-Schubert, in Klassenräumen mit Linoleumböden und Kreidegeruch, spricht der Geist des großen alten Griechen Aristoteles, geboren 384 Jahre vor Christus, dessen Wahrheiten der Lehrer auch im 21. Jahrhundert gern wieder beherzigt sähe. Der sagte, dass ein Mensch nur menschlich sein könne, wenn er in einer Gemeinschaft und gemeinsam mit anderen handele. Dass die höchste Menschlichkeit sich in einer vernünftigen Tätigkeit zeige, die als Glück erlebt werde.

Sinnvolle Tätigkeit. Nicht Geld, nicht Besitz. Das Königreich Buthan im Himalaya entschied vor zwei Jahren, zusätzlich zum Bruttosozialprodukt (BSP) auch das Bruttonationalglück (BNG) der Einwohner erheben zu lassen. Weil der König glaubt, dass, wer glücklich lebt, auch gerne mehr leistet.

Es ist nicht einfach, Teenager in Glück zu unterrichten. Man muss sie fordern, motivieren, sie müssen mitmachen, ehrlich sein, mal etwas preisgeben, statt lieber cool zu sein. Man muss die Bereitschaft wecken, das Glück finden zu wollen, vergraben vielleicht unter schwierigen Familienverhältnissen oder schlechten Noten. „Das geht mit allen Kindern“, sagt Fritz-Schubert, egal ob in Heidelberg oder in Berlin-Neukölln. Der Unterricht ist Sport und Philosophie in einem. Nach der Stunde isst der Direktor eine Stulle.

Am 4. Juli wird er 62. Am Tag der Unabhängigkeit Amerikas, des Landes, das die Aufforderung zum Streben nach Glück sogar in der Verfassung festgeschrieben hat. The pursuit of happiness. „Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, dass er glücklich ist“, schrieb Paul Watzlawick 1983. Ist aber nicht das Streben nach etwas anderem schon Ausdruck von Unglück, zumindest von Unzufrieden- von Nichtzufriedenheit?

Neurobiologen haben herausgefunden, dass der Mensch lieber die kurze Freude wählt als längerfristige positive Stimmung. In einer Leistungsgesellschaft, die jeden mit dem nächsten vergleicht, werde suggeriert: Glück ist dort, wo ich gerade nicht bin. Das sagt Fritz-Schubert, der anderes vermitteln will. Dass man sich Zeit nehmen solle, Gründe fürs Glücklichsein zu finden. Sein Angebot: Sinnsuche, 90 Minuten pro Woche.

Vor knapp acht Jahren begann Fritz-Schubert, sich mit dem Glück zu beschäftigen, seinem eigenen zunächst. Im Jahr 2000 war er vom Stellvertreter zum Schulleiter aufgerückt, die beiden Töchter waren erwachsen, sein Leben in der Halbzeitpause, und er fragte sich: Was will ich noch vom Leben?

Er reflektierte über die Jahre seiner Jugend, warf einen Blick in die Zukunft – und las. Neurologen, Psychologen, Soziologen, Pädagogen. Er stieß auf die Positive Psychologie, deren Ansatz es ist, Wohlsein zu unterstützen, statt Unwohlsein zu verringern, Schwächen in Stärken umzuformulieren, das Gute im Schlechten zu sehen.

Fritz-Schubert nahm etliche Theorien auf, überdachte sie und formte aus ihnen ein Konzept, einen Lehrplan für das Glück, in dem die Unterrichtseinheiten Namen tragen wie „Freude am Leben“, „Abenteuer Alltag“ oder „Das Glück des Augenblicks“. Benotet wird nicht, wie glücklich die Schüler sind, sondern die Dokumentation des Unterrichts, sorgfältige Protokolle und Recherchen, die Überschriften teils kunstvoll verziert, eingeheftet in bunten Kladden. In der gymnasialen Oberstufe ist es eine ganze Projektarbeit, mehr als 30 Seiten lang.

„Kommt ein Schüler in mein Büro, dann sehe ich in ihm – mich“, sagt der Lehrer. Fritz-Schubert mit 14, 15, 16, der Leistungssportler, Rennradfahrer aus Fulda, der die Schule nicht liebte und erst nur die Mittlere Reife schaffte. Der eine Ausbildung zum Steuerberater machte, weil die Eltern ihm dazu rieten und ihm selbst nichts Besseres einfiel; und der erst später, als er seinen Wehrdienst absolvierte, ermutigt durch eine freundliche Bemerkung eines Lehrers Anlauf nahm und seinem Leben eine neue Richtung gab. Er holte sein Abitur nach, begann Wirtschaft und Jura zu studieren und entschloss sich kurz vor dem Examen, Lehrer zu werden. Nun ist er es schon 34 Jahre. „Es ist der tollste Beruf“, sagt er. Bücher über sein Fach schreibt er inzwischen auch. „Glück kann man lernen“ heißt sein zweites, das im August erscheint.

Außen am Schulgebäude, kastenförmig, gebaut in den 50er Jahren, umgeben von Bäumen, blättert an einigen Stellen die Farbe ab, dunkles Grau und mattes Gelb. Bevor die staatliche Schule 1973 nach Willy Hellpach, dem Sozialpsychologen und einstigem badischen Staatspräsidenten benannt wurde, hieß sie Handelslehranstalt 1. Etwa 1500 Schüler besuchen sie derzeit. Vor dem Schulgelände stehen Mädchen und rauchen, an der Pinnwand vor dem Sekretariat wirbt eine Yogalehrerin für einen Kurs.

Ernst Fritz-Schubert sitzt im Klassenzimmer zurückgelehnt in seinem Stuhl, seine Arme hängen locker zu den Seiten herab. Die Lehrplaneinheit „Freude an der eigenen Leistung“ findet statt. Der Lehrer ist offen – für Neues, für seine Schüler. Die ihm Vertrauen schenken. Darfina zum Beispiel. Die 16-Jährige hat vor ihren Mitschülern ihr großes Ziel an die Tafel gemalt. Ein Zeugnis, Mathe, Deutsch, Englisch steht darauf, dahinter dreimal die Zahl Zwei, darüber ein Datum: Juli 2011. Es ist Darfinas Abschlusszeugnis, das heißt, es könnte ihres sein. So jedenfalls wünscht sie es sich. Noch sind ihre Noten nicht so gut.

Fritz-Schubert legt Zettel auf den Boden, zehn Stück, nummeriert, vom einen Ende des Klassenraums bis hin zur Tafel, zu Darfinas Zeugnis. Auf Zettel Nummer fünf stellt sich die Schülerin, weil sie sich ihrem Ziel zur Hälfte nahe fühlt. Drei Stärken von sich soll sie nennen, jede wird einer Freundin zugeordnet. Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, Pünktlichkeit. Drei Mädchen stehen auf, legen ihr die Hände auf die Schultern. Darfina träumt sich in den Sommer 2011. Ist es warm im Musiksaal, in dem die Zeugnisse übergeben werden? Ja, sagt sie. Was für ein Kleid wird sie tragen? Ein schwarzes. Ihre Eltern werden da sein, Musik wird gespielt. Sie macht zwei Schritte nach vorn und steht auf Zettel Nummer Sieben. Zwei Schritte fühlt sie sich ihrem Ziel nun näher. Sie kichert.

Das alles sei kein Spaß, erklärt Fritz-Schubert seinen Schülern sofort und zeichnet ein Diagramm an die Tafel. Abwägen, planen, handeln, bewerten, schreibt er in weißer Kreideschrift. Wer einmal Erfolg hat, sagt er, lässt sich bei den kommenden Planungen davon beeinflussen. Und dass dies in der Wissenschaft auch Rubikon-Prozess genannt werde. Zu betonen, dass sein Unterricht seriös und kein esoterischer Hokuspokus ist, sei ihm sehr wichtig, sagt er. Um den Lehrplan auszuarbeiten, lud er externe Fachleute ein, Theaterpädagogen, einen befreundeten Familientherapeuten, den Sportwissenschaftler Wolfgang Knörzer, der das Projekt begleitet. Dass es funktioniert, hat Fritz-Schubert wissenschaftlich nachweisen lassen. Eine Glücksgruppe Schüler, eine Kontrollgruppe, Professor Ernst Gehmacher aus Wien. Das Ergebnis: die Glücksgruppe fühlt sich besser.

„Menschlich bedeutet der Unterricht Persönlichkeitsentwicklung“, sagt Fritz- Schubert. „Und pädagogisch schaffe ich damit eine Lernvoraussetzung.“

Ob seine Schüler den Unterricht auch mögen, weil es leicht sein kann, eine gute Note in Glück zu bekommen? Ja. Ob sie auch merken, dass es hilft, was sie lernen? Ja. Dardan jedenfalls erzählt von einer Übung, die ihn sehr beeindruckt hat. Er sollte den rechten Arm nach vorne ausstrecken, den Daumen mit seinem Blick fixieren, dann den Oberkörper, mit ausgestrecktem Arm, so weit nach rechts drehen wie möglich, den Blick starr auf den Finger gerichtet, und sich den Punkt merken, an dem es nicht mehr weitergeht. Zurückdrehen. Dann die Augen schließen – und, nur in Gedanken, nochmal drehen, sich vorstellen, wie es wäre, wenn man weiter käme als zuvor. Augen öffnen, wieder drehen, sehen ob es auch in Wirklichkeit weiter geht. Es ging, sagt Dardan und grinst. 45 Minuten, eine Lektion fürs Leben. Wenn man will, schafft man alles.

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