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Con-Rad: Haas experimentierte intensiv mit verschiedenen Varianten von Feuerrädern.

© Haas, C. "Kunstbuch" / Repro: R. Friebe

Böllerei und Raketentechnik vor fast 500 Jahren: Die Wiege der Raumfahrt stand in Transsilvanien

Ja, man kann Feuerwerk auch lieben. Ein gewisser Conrad Haas erfand vor fast 500 Jahren beim Böllerbasteln sogar die Mehrstufenrakete.

Auf die Frage, welche für die Menschheit bedeutsamen Innovationen Transsilvanien hervorgebracht hat, wird manchen vielleicht die Blutentnahme per Eckzahn einfallen. Tatsächlich aber stand im „Land hinter den Wäldern“, das heute zu Rumänien gehört, die Wiege der Raumfahrt. Beziehungsweise gleich zwei davon. Wirklich.

Dass der Mathematiker Hermann Oberth, geboren 1894 im siebenbürgisch-sächsischen Hermannstadt, mit seiner „Raketengrundgleichung“ die Basis für das Überwinden der Erdanziehungskraft legte, ist zumindest Fachleuten präsent.

Dass die mehrstufigen Raketen, die man dafür braucht, schon Jahrhunderte zuvor in genau jener Stadt von einem Bayern erdacht wurden, wusste lange Zeit niemand. Nicht einmal Oberth. Dabei wollte jener wohl 1509 in Landshut geborene Conrad Haas eigentlich nur basteln, vor allem an „allerley überaus schönem und künstlichem Feuerwerck“. Das tat er auch in jeder freien Minute, von denen er als Büchsenmeister und Zeugwart des Hermannstädter Waffenarsenals reichlich hatte.

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So nebenbei erfand er offenbar auch „drey Rackett ineinander geschoben mit drey Schüssen“ – eine Dreistufenrakete eben. Auch wenn Haas sicher nicht an die Raumfahrt oder Interkontinentalwaffen dachte, war er doch soweit heute bekannt derjenige, der als erster die dafür nötige Technologie erfand und dokumentierte. Doch nach seinem Tod, von dem nicht einmal das Jahr bekannt ist, geriet der Mann mit dem langen Bart völlig in Vergessenheit.

Lauffeuer. Wie sich wohl „Feuerwerks-Tiere“ gefühlt haben?
Lauffeuer. Wie sich wohl „Feuerwerks-Tiere“ gefühlt haben?

© Haas, C. "Kunstbuch" / Repro: R. Friebe

Erst 1961, im Jahr von Juri Gagarins erster Erdumrundung, stieß der Technikhistoriker Doru Todericiu im Archiv von Hermannstadt, das jetzt Sibiu hieß, auf ein Manuskript mit Raketen- und Bombenbeschreibungen. Ob er es war, der die Bedeutung der reich illustrierten Seiten erkannte, oder jemand anderes, der aber dem Regime nicht genehm war, kann heute niemand sagen.

Todericiu jedenfalls veröffentlichte 1969, im Jahr der Mondlandung, sein Buch über das Manuskript. Den Raketenpionier macht er zu „Conrad de la Sibiu“, das auf Deutsch verfasste Werk, das Haas selbst „Kunstbuch“ – im Sinne seiner Handwerkskunst – betitelte, nennt Todericiu „Manuscrisul de la Sibiu“.

Vereinnahmung durch das Regime Ceaucescus

Diese Vereinnahmung und die Veröffentlichung – mit Ausnahme einer kurzem Notiz in einem internationalen Fachmagazin – nur in rumänischer Sprache sind Gründe dafür, dass es über Haas und seine Raketen bis heute fast keine weiteren Untersuchungen gibt. Nur Hans Barth, ein 2011 verstorbener, in Siebenbürgen geborener Ingenieur, veröffentlichte 1983 in einem deutschsprachigen Bukarester Verlag eine kleine Biografie.

Das Manuskript des Conrad Haas setzt sich aus drei Teilen zusammen. Die ersten beiden sind Monographien über das Kriegshandwerk und die vornehmlich militärisch eingesetzte Pyrotechnik. Nur Teil Drei stammt aus Conrad Haas' eigener Feder, „angefangen im Jahre 1529 vnnd vollendet im Jahr der weniger Zahl im 70.“

Ariane Null: Diese Drei-Stufen-Rakete ist das erste belegte Beispiel der Mehrstufentechnik. Vier Jahrhunderte später half sie als „Saturn V“ Neal Armstrong zum Mond.
Ariane Null: Diese Drei-Stufen-Rakete ist das erste belegte Beispiel der Mehrstufentechnik. Vier Jahrhunderte später half sie als „Saturn V“ Neal Armstrong zum Mond.

© Haas, C. "Kunstbuch" / Repro: R. Friebe

Im Jahr 2020 ist es also genau 450 Jahre her, dass Haas sein Buch abschloss. Da war er über 60 Jahre alt. 20 war er gewesen, als er die ersten Zeichnungen datierte und mit „C.H.“ signierte – auch jene über Mehrstufenraketen. Wenn sich irgendwann Technikhistoriker wieder mit Haas beschäftigen sollten, werden sie sich sicher fragen, ob er selbst deren Erfinder war – oder sich als 20-Jähriger an Konzepten heute unbekannter Lehrmeister bediente.

Dass aber jene, die bis zur Entdeckung des Haas’schen Werkes als Urväter der Mehrstufenrakete galten, auf den Meister aus Siebenbürgen zurückgegriffen hatten, ohne ihn zu zitieren, ist offensichtlich. Der polnische Waffentechniker Kazimierz Semienowicz, der 1650 sein Werk „Artis magna artilleriae pars prima“ veröffentlichte, hat beim Deutschen Johannes Schmidlap abgeschrieben. Schmidlap wiederum hatte für sein Buch „Künstliche und rechtschaffene Feurwerck“ von 1591 offenbar speziell beim Thema Mehstufenantrieb den Hermannstädter Büchsenmeister als Ideengeber.

Delta Airlines: Die Raketen aus Hermannstadt waren mit deltaförmigen Leitwerken ausgestattet, wie sie auch bei modernen Überschallflugkörpern wie Concorde oder Ariane eingesetzt werden.
Delta Airlines: Die Raketen aus Hermannstadt waren mit deltaförmigen Leitwerken ausgestattet, wie sie auch bei modernen Überschallflugkörpern wie Concorde oder Ariane eingesetzt werden.

© Haas, C. "Kunstbuch" / Repro: R. Friebe

Doch ob Haas wirklich der erste war, dem Mehrstufenraketen einfielen, der sie baute und darüber schrieb, ist auch eine Interpretationsfrage. Denn dort, wo das Feuerwerk an sich wahrscheinlich überhaupt erfunden wurde, in China, wurde auch schon lange vor Haas’ Zeiten etwas beschrieben, was man streng genommen als Mehrstufenrakete bezeichnen könnte. In einem „Huolongjing“ betitelten Buch eines Autor namens Jiao Yu taucht ein mit Pulver gefülltes Geschoss auf, aus dessen Drachen-Rachen nach Abbrennen der Hauptrakete viele kleine Einzelraketen gespuckt werden. Ob sie allesamt als zweite Stufen oder eher als prachtvolle Nutzlast einer einstufigen Rakete zu definieren sind, darüber kann man streiten.

"Wechselspiel aus Empirie und Intuition"

Davon gewusst hat Haas mit ziemlicher Sicherheit aber nichts. Hans Barth sagte kurz vor seinem Tode, Haas sei „in einem Wechselspiel aus Empirie und Intuition zum Mehrstufenprinzip gelangt“. Und zu seinen zahlreichen anderen Erfindungen ebenso. So finden sich etwa in einer seiner Zeichnungen deltaförmige Stabilisierungsflossen für seine Raketen, die modernen Designs schneller Flugkörper – von Concorde bis Ariane – ähneln.

Ein anderes auch heute noch universelles, von Haas erstmals beschriebenes Raketendetail sind glockenförmige Düsen. Außerdem bündelt der Meister mehrere Raketen um einen Leitstab, baut Feuerräder für das festliche Vergnügen und lässt zu militärischen Aufklärungszwecken Leuchtkugeln erstrahlen, nachdem sie mit seinen Raketen in Richtung des feindlichen Gebiets abgeschossen worden waren.

Er ist auch der erste, der Flüssigtreibstoff als Zusatz zum Pulver empfiehlt, „Branntenwein“ etwa, heute in der Gegend als „Zuika“ bekannt und berüchtigt. Doch Haas war jedes Mittel recht. Für seine „Gezeug“ nennt er unter anderem auch „Menschenharn und andere dergleichen Dinge“ als sinnvolle Beigaben, um den richtigen Treibstoff „auch in einer Eil bald zu machen“.

Instrumental: „Ein einfach Orgel“ ist dieses Gerät. Ein Nachfolger hörte auf den Namen Stalin.
Instrumental: „Ein einfach Orgel“ ist dieses Gerät. Ein Nachfolger hörte auf den Namen Stalin.

© Haas, C. "Kunstbuch" / Repro: R. Friebe

Wenn man ein bisschen Geduld hat und die zuständigen Damen höflichst bittet, kann man im Schummerlicht hinter den dicken, auch ein wenig an ein Arsenal erinnernden Mauern des Hermannstädter Staatsarchivs in die Haas'sche Ideen- und Bilderwelt eintauchen. Zwar liegt das Original des Manuskripts längst in Bukarest unter Verschluss. Doch ein gewaltiger Wälzer mit Farbkopien wird dem Besucher gravitätisch ausgehändigt. Man liest von „allerley Art und Manier der Schläg zu obengenannten Feuerwercken“ und der Art, „Racketten zuzurichten, auf dass sie in die Höhe kommen, zupen und drey Schüsse tun“.

"Die Büchsen do sein gelassen unter dem Dach"

Angesichts der Unfälle, die selbst heute mit TÜV-geprüften Feuerwerkskörpern immer wieder passieren – von Eigenbau-Böllern ganz zu schweigen – kann man davon ausgehen, dass Haas ein umsichtiger, bedächtiger, wohlorganisierter Forscher und Ingenieur gewesen sein muss. Weder im Text noch auf den Bildern des Manuskripts, auf denen der Herr Arsenalsverwalter gelegentlich auch selbst zu sehen ist, finden sich Hinweise auf verlorene Finger oder verbrannte Hautpartien.

„Fast alles, was man über Haas weiß, stammt aus dem Kunstbuch“, sagte Hans Barth 2010. Man könne „sein Leben deshalb nicht gut rekonstruieren“. Trotzdem nannte Barth ihn in der Neuauflage seines Buches 2005 nicht nur einen „Raketenpionier“, sondern auch einen „Humanisten“.

Grund dafür war für ihn vor allem eine ganz andere Art „Erstleistung“ als Wissenschaftler: Haas wusste, dass das, was er erdachte, Menschen sowohl Freude und friedlichen Nutzen als auch den Tod bringen konnte. Die Worte, mit denen er das Kapitel über den militärischen Einsatz von Raketen beschließt, machen ihn zum Vorreiter vieler Forscher des 19. und 20. Jahrhunderts.

"Das ist der Rath so Conrad Haas tut geben.“"

Diese arbeiteten wie er an potenziell gefährlichen Technologien und setzten später das ganze Gewicht ihrer Persönlichkeit ein, um gegen die kriegerische Nutzung ihrer Entdeckungen einzutreten.

Alfred Nobel, Otto Hahn, Lise Meitner oder Carl Friedrich von Weizsäcker sind nur ein paar Beispiele. Haas, der Waffenexperte, schrieb schon vor mehr als 450 Jahren: „Aber mein Rath mehr Fried und kein Krieg, die Büchsen do sein gelassen unter dem Dach, so wird die Kugel nit verschossen, das Pulver nit verbrannt oder nass, so behielt der Fürst sein Geld, der Büchsenmeister sein Leben; das ist der Rath so Conrad Haas tut geben.“

Sein Landsmann und ansonsten geistiger Nachfolger Hermann Oberth hat sich daran nicht gehalten. Denn er arbeitete nicht nur mit Fritz Lang an Weltraumfilmen, sondern eben auch mit Wernher von Braun an der „V2“ und anderen Kriegsraketen der Nazis.

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