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Matthias Huss, Glaziologe an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH Zürich), führt Messungen der Eisdicke durch.

© dpa/Jean-Christophe Bott

Dünnes Eis: 2022 schmolzen die Gletscher in der Schweiz so stark wie noch nie

Experten warnen: Wird die Erderwärmung nicht auf 1,5 Grad begrenzt, könnten die Eisströme komplett verschwinden.

Von Jan Dirk Herbermann

Eine Steinwüste breitet sich aus, zerklüftet, mit Geröll übersät. Kleine und lang gezogene Gletscherzungen schlängeln sich um die Gipfel der Berge. Hier und dort zeigen sich Tümpel. Auf den Spitzen liegt eine dünne Schneedecke, wie Puderzucker. Weiter unten finden sich künstlich angelegte Wasserreservoire, gut gefüllt. Beobachtungen aus einem Flugzeug, Ende August.

Die Luftreise über den Schweizer Kanton Wallis öffnet den Blick auf die schroffe Landschaft der westlichen Alpen, eine Landschaft, die durch den Druck des Klimawandels in Bewegung geraten ist. Und in diesem Jahr macht die Erderwärmung den Schweizer Gletschern besonders stark zu schaffen, jenen gigantischen Eismassen, die dem Hochgebirge ihr unverwechselbares Gepräge geben. Noch.

„2022 war für Schweizer Gletscher katastrophal“, meldete das schweizerische Gletschermessnetz Glamos. Die Glaziologen betonen: „Mit sehr wenig Schnee im Winter und anhaltenden Hitzewellen im Sommer wurden sämtliche Rekorde der Eisschmelze pulverisiert.“ Staub aus der Sahara, der auf den Schnee fiel, tat ein Übriges. Der Schnee, der die Gletscher schützt, verdunkelte sich und absorbierte mehr Sonnenenergie.

Wo früher Eismassen ruhten, findet sich nur noch nackter Fels.

Bergführer Walter Josi

Über sechs Prozent des Eisvolumens, das entspricht drei Kubikkilometern, gingen nach den Berechnungen verloren: Die Abschmelzraten übersteigen die bisherigen Höchstwerte aus dem Hitzesommer 2003 „bei Weitem“.

Ein Katastrophenjahr für die Alpengletscher

Besonders hart trifft es kleine Gletscher. Der Pizolgletscher in St. Gallen, der Vadret dal Corvatsch in Graubünden und der Schwarzbachfirn in Uri haben sich aufgelöst. Die Glamos-Fachleute stellten dort die Messungen ein. „Schweizer Gletscher schmolzen wie noch nie“, sagen die Experten und fassen damit ihre Jahresbilanz 2022 zusammen.

In Deutschland ist die Lage nicht anders. Nach dem heißen Sommer verlor der Südliche Schneeferner seinen Status als Gletscher, wie die Bayerische Akademie der Wissenschaften mitteilte. „Aufgrund der geringen Eisdicke kann auch keine Eisbewegung mehr erwartet werden, sodass der Südliche Schneeferner nicht länger als eigenständiger Gletscher betrachtet wird.“

Somit gibt es in Deutschland nicht mehr fünf, sondern nur noch vier Gletscher. Auch Österreichs größter Gletscher, die Pasterze, ist dieses Jahr zwei- bis viermal so schnell geschmolzen wie im Durchschnitt der vergangenen Jahre.

Gletschervolumen seit den 1930er-Jahren halbiert

Der Blick zurück liefert den Experten der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald Schnee und Landschaft ebenso alarmierende Resultate. Sie rekonstruierten die Topografie aller Schweizer Gletscher für das Jahr 1931. „Aufgrund dieser Rekonstruktionen und Vergleiche mit Daten aus den 2000er-Jahren kommen die Forschenden zum Schluss, dass sich das Gletschervolumen zwischen 1931 und 2016 halbiert hat“, heißt es von der ETH.

100
Meter mächtiger war der Große Aletschgletscher früher, erzählt der 80-jährige Walter Josi.

Werden die Gletscher in den Alpen einmal ganz verschwunden sein? „Das kommt auf den Menschen an“, antwortet der renommierte Glamos-Glaziologe Andreas Linsbauer von der Universität Zürich. „Wenn wir die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter begrenzen, dann dürften am Ende des Jahrhunderts noch 30 bis 40 Prozent der Gletscher vorhanden sein“, betonte Fachmann Linsbauer.

Und was passiert, wenn die Menschheit das 1,5-Grad-Ziel, das im Pariser Klimaabkommen festgeschrieben ist, verfehlt? „Dann werden die Alpen ihre Gletscher verloren haben“, sagt Linsbauer.

 Der Fieschergletscher in den Jahren 1928 (l) und 2021: Wo einst Eis war, blickt man heute auf blanken Fels.
 Der Fieschergletscher in den Jahren 1928 (l) und 2021: Wo einst Eis war, blickt man heute auf blanken Fels.

© dpa/wisstopo/VAW/ETH Zürich

Der Abschied von den Gletschern verändert das Dasein der Menschen in den Hochregionen. „Berge wie das Silberhorn verwandeln sich zu einem Schwarzhorn. Dort, wo früher Eismassen ruhten, findet sich nur noch nackter Fels“, sagt Bergführer Walter Josi. Seit seiner Jugend, so erzählt der 80-Jährige, sackte der größte Alpengletscher, der Große Aletsch, um 100 Meter ab.

„Das alles tut mir schon sehr weh im Herzen.“ Josi kennt die Schweizer Alpen wie nur wenige andere Menschen. Seit mehr als einem halben Jahrhundert leitet er Exkursionen auf die steinernen Riesen, hat alle 4000-Meter-Berge Helvetiens wie die Dufourspitze auf dem Monte-Rosa-Massiv erklommen. Mehrmals. Einst verschüttete ihn eine gewaltige Lawine, fast eine Stunde lag er bewusstlos unter einer Schneeschicht.

Ohne die Gletscher verlieren die Berge an Stabilität

„Leben und Überleben gehören bei uns in den Bergen sehr eng zueinander“, sagt Josi und berichtet über die Folgen der Gletscherschmelze: „Die Gletscher stabilisieren viele Gebiete in den Alpen. Zieht sich das Eis zurück, kann es verstärkt zu Steinschlägen, Felsabbrüchen und den gefürchteten Murgängen oder Schlammlawinen kommen.“ Tatsächlich häuften sich in den vergangenen Jahren Bergstürze in den Schweizer Alpen und rissen Menschen in den Tod.

Immer öfter müssen die Behörden große Teile der alpinen Landschaft für Wanderer und Bergsteiger sperren – die Launen der Natur lassen sich einfach nicht voraussagen. „Zeitweise konnten wir nicht mehr auf das Matterhorn steigen“, erzählt Josi. Der Zugang von der Schweizer Seite und der italienischen Seite war gesperrt.“

Langfristig müssen die Menschen auch um eine geordnete Wasserversorgung bangen. In der Schweiz, wo 60 Prozent der Energie durch Wasserkraft erzeugt wird, dürfte damit auch die Stromversorgung beeinträchtigt werden. „Die Gletscher bilden für die Schweiz einen großen Wasserspeicher“, sagt Glaziologe Linsbauer. „Zuerst einmal bringt die Gletscherschmelze mehr Wasser, dann weniger Wasser und irgendwann, wenn die Eismassen nicht mehr da sind, kommt überhaupt kein Wasser mehr.“ (mit AFP/dpa)

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