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Berge, die im Wasser träumen. Wehe, wenn die steigenden Temperaturen sie zum Erwachen bringen.

© Foto: Marco Tedesco

Schmelzender Kontinent: Das Eis ist der Elefant, und ich bin die Zelle

Der Gletscherforscher Marco Tedesco entdeckt in der Arktis das Gedächtnis der Welt

Der Legende der grönländischen Inuit nach waren Malina (die Sonne) und Anningan (der Mond) einmal eng verbundene Geschwister. Malina war so schön, dass der eifersüchtige Anningan sie eines Nachts in ihrem Bett vergewaltigte. Sie stellte eine Falle, um herauszubekommen, wer der Täter gewesen war.

Wild vor Zorn über den Bruder schnitt sie sich schließlich die Brüste ab und bot sie ihm zur Mahlzeit an, was eine nie endende Verfolgungsjagd am Himmel auslöste und dazu führte, dass Anningan im Monatsrhythmus zu essen vergaß und ihn fast verschwinden ließ.

In Marco Tedescos fesselndem Bericht über den „schmelzenden Kontinent" im hohen Norden gibt es weitere solcher Geschichten, die von der engen Verbundenheit der Indigenen mit der sie umgebenden Natur erzählen. Doch das wichtigste Anliegen der kleinen Crew um den ursprünglich aus Irpinia, dem gebirgigen Teil Kampaniens stammenden, an der University von Columbia lehrenden Glaziologen und Klimaforscher, sind die Messungen, die erklären, wie sich das Klima auf unserem Planeten verändert.

Veränderte Farben durch Einlagerungen

Denn „das Eis ist der Elefant, und ich bin die Zelle“, schreibt Tedesco, was heißt, dass das Eis an den Polen das Gedächtnis der Welt aufbewahrt. Schmilzt es durch Temperaturen, die in der Arktis doppelt so schnell steigen wie anderswo, ist es nicht mehr auskunftsfähig.

Seine Farbe verändert sich durch Einlagerungen, das Eis wird dunkler und das Verhältnis von reflektiertem und absorbiertem Sonnenlicht immer ungünstiger. Es kommt zu dramatischen Rückkopplungseffekten, die Meeresspiegel steigen ungleichmäßig an, die Fauna bis hin zu extrem anpassungsfähigen Kleinstlebewesen wie Bärtierchen verliert ihre Lebensgrundlage.

Tedescos „Reise durch die Arktis und ihre bedrohten Lebensräume“, so der Untertitel, umfasst nur einen einzigen Tag. Doch der hat es in sich. Er beginnt mit dem scheinbar banalen Aufstehen, dass in einem nur 50 Zentimeter hohen Zelt bei Außentemperaturen von weit über minus 20 Grad selbst schon eine Herausforderung ist, vom Kaffeekochen im Küchenzelt ganz abgesehen.

Die Stille rundum ist gespenstisch, jede geräuscherzeugende Bewegung bekommt in der dünnen Luft einen völlig anderen Klang und das Eis „knackt, reißt, rauscht und kracht“.

Unverzichtbare Sockenpaare

Schon nach dem Anziehen der unverzichtbaren Sockenpaare sind die Forschenden erschöpft, „aber auch aufgeregt bei dem Gedanken, was uns erwartet“. Denn im Grönländischen Eisschild „hilft uns kein Supermarkt oder Elektrohändler aus der Patsche, wenn wir beim Packen einen Schraubenzieher oder eine Rolle Schnur vergessen haben.“

Mäandernd zwischen den Tagesereignissen und wissenschaftlichen Fakten und Erklärungen, die der Journalist Alberto Flores d’Arcais zusammen mit dem Forscher in eine auch für Laien verständliche Sprache übersetzt hat, werden die Lesenden Zeugen der Eisbohrungen mit dem Spektrometer, das Gerät, das quasi einen DNA-Abdruck des Eises liefert. Erzählt wird von der Mühe, sich im Eis fortzubewegen, jener anderen, so faszinierenden und in der Arktis durch seine besondere kristalline Form auch verletzenden Form des Wassers.

Tedesco erzählt vom eigentlichen Entdecker des Kontinents, „dem vergessenen Helden“ Matthew Alexander Henson, der mit seiner Gruppe den Nordpol um nur 500 Kilometer verpasste. Und von den Eisbären, die plötzlich auf arktischen Forschungsstationen auftauchen, auf der Suche nach Nahrung. Sie könnte das Schicksal jenes Polarkamels ereilen, dem Vorfahren der heutigen Wüstenbewohner.

Der Höhepunkt des Berichts mündet allerdings im Verschwinden eines riesigen arktischen Sees. Er kollabiert plötzlich vor den Augen der Gruppe und läuft unterirdisch ab, als habe man „einen Stöpsel aus der Badewanne gezogen“.

Verschwinden in der Gletschermühle

Auch dies eine Folge der Klimaveränderung, weil die arktischen Seen von den Rändern her aufgefressen werden. Wären die Forscher selbst auf dem Gewässer gewesen und hätten ihn nicht mit einem ferngesteuerten kleinen Boot vermessen, wären sie gnadenlos in diesem Loch – in der Fachsprache: Gletschermühle – verschwunden.

Die großartigen Bilder, die in einer kleinen Auswahl auch im Buch dokumentiert sind, beweisen, „dass sich Monate der Vorbereitung in einer Mikrosekunde verdichtet haben, in denen Elektronen über unser Schicksal entscheiden.“

Der Autor legt indes auch Rechenschaft darüber ab, dass er als Wissenschaftler der Columbia University im Auftrag der NASA unterwegs ist und die Expedition über Instrumente und Materialien verfügt, die ursprünglich von der Rüstungsindustrie entwickelt wurden.

Selbst wenn es zu keinem Krieg um die Arktis kommt – was keineswegs ausgemacht ist, denn ein buchstäblich Kalter Krieg dort hat längst begonnen –, gibt es genügend zivile Interessenten an den Daten, die die Forschungsgruppe erhebt.

Angefangen mit der Tourismusindustrie, die die Pole für sich und die Superreichen entdeckt hat, bis hin zu den Staaten, die auf die Ausbeutung der riesigen Bodenschätze unter dem Eis spekulieren. Und das sind nicht nur die sechs Anrainerländer, sondern auch die Betreiber der chinesischen Seidenstraße. Die indigene Bevölkerung droht dabei auf der Strecke zu bleiben.

Aus wissenschaftstheoretischer Sicht führt Marco Tedesco vor Augen, dass wir manche festgefügte Vorstellung über Bord werfen müssen – etwa die Verortung von Kamelen in der Wüste – und nur eine vorurteilsfreie Sicht es erlaubt, zu sehen, was die klimatische Zukunft bereithält. Bei allem Enthusiasmus für das Eis, das er in berauschende Bilder fasst, stimmen seine Analysen nicht unbedingt optimistisch. Überzeugt ist er aber davon, dass die Reise ins Eis auch ins eigene Innere führt.

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