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Ein Blick in den Elektronikspeicherring „Bessy II“ in Adlershof: Die Anlage spendet Forschenden brillantes Licht, nur wenige gibt es davon weltweit.

© dpa/Jens Kalaene

Eine Nacht mit Bessy: Wo in Berlin die Elektronen sausen

Im Südosten Berlins steht ein ringförmiger Bau, der in der ganzen Welt bekannt ist: Bessy. Hier beschleunigen Elektronen auf ein irres Tempo und spenden Forschenden brillantes Licht – rund um die Uhr.

Von Bernd Eberhart

In Berlin-Adlershof gibt es blankgewienerte Wohnblocks, aber keine Menschen, es gibt extrabreite Straßen, aber kaum Autos. Es gibt zwei Netto-Märkte, die nur drei Gehminuten auseinanderliegen, aber es findet sich partout kein Laden, der uns, einem Fotografen und einem Reporter, vor einer langen Nacht einen anständigen Kaffee verkaufen würde.

Inmitten dieser Beton gewordenen Langeweile aber wartet etwas auf uns: Bessy. Ein Tempel der Wissenschaft, eine Pilgerstätte der Grundlagenforschung. Lange stand BESSY für die „Berliner Elektronenspeicherring-Gesellschaft für Synchrotronstrahlung“ und damit für eine Forschungseinrichtung in Berlin. Der Name steht heute für BESSY II – einen großen Teilchenbeschleuniger.

Das Teil gehört zum HZB, dem Helmholtz-Zentrum Berlin für Materialien und Energie. Bessy beschleunigt Elektronen auf ein irres Tempo, um sie dann, knapp unter Lichtgeschwindigkeit, von ihrer Flugbahn zu schubsen. Bei diesem erzwungenen Richtungswechsel, und das ist der ganze Grund für diesen Apparat, geben die abgelenkten Elektronen einen Teil ihrer Energie in Form elektromagnetischer Wellen ab – als Licht.

Die Synchrotronstrahlung, die Bessy erschafft, ist nicht irgendein Licht. Eine seiner Komponenten ist ultrastarkes, ultrafeines, eben: brillantes Röntgenlicht. Es eignet sich bestens für Forschungen, bei denen man genau in feine Strukturen blicken muss. Weltweit gibt es nur ein paar Dutzend Synchrotronlichtquellen dieser Größenordnung.

Die ganze Nacht ist hier Betrieb, mit Forschenden aus aller Welt

Ein Jahr im Voraus werden deshalb die Termine für Beamtime an den Beamlines in Berlin-Adlershof vergeben, also für Strahlzeit an einer der rund 40 Forschungsstationen, an denen frisches, brillantes Licht aus dem Speicherring gezapft und genutzt werden kann. Gut 600 Anträge im Jahr kommen beim Helmholtz-Zentrum rein, rund 70 Gutachter:innen entscheiden, wer Strahlzeit mit Bessy verbringen darf. Und weil diese Zeit knapp und begehrt ist und weil man Bessy nicht einfach zum Feierabend runterfahren kann, ist hier die ganze Nacht über Betrieb. So ist es im Regelbetrieb jedenfalls: Aktuell ist die Anlage nach einem Hackerangriff nur eingeschränkt nutzbar.

Normalerweise aber kommen Wissenschaftler:innen aus der ganzen Welt her, messen, forschen, hausen rund um die Uhr am Speicherring, teils für mehrere Wochen. Sie betreiben Grundlagenforschung. Das heißt: Niemand weiß, ob zu eigenen Lebzeiten was aus dieser Forschung entsteht oder erst in Generationen – oder gar nicht. Trotzdem opfern die Forscher:innen hier Tage, Nächte, Wochen, Monate; aus Neugier, aus Wissensdurst, weil sie den Glauben hochhalten, dass sie die Menschheit voranbringen können, wenigstens einen winzigen Schritt weiter.

Wie fühlt es sich an, sich hier die Nacht um die Ohren zu schlagen? Wir fragen an diesem Abend – früher im Jahr, vor dem Hackerangriff – Astrid Brandt, eine Chemikerin am HZB, die selbst etliche Stunden Beamtime verbraucht hat und mittlerweile alle Arbeitsgruppen betreut, die herkommen. Der Speicherring, das Rohr also, durch das die Elektronen rasen, hat einen Umfang von 240 Metern, misst aber nur wenige Zentimeter im Querschnitt. Drumherum, abgetrennt von einer Wand, sind die Beamlines aufgebaut, in denen die eigentliche Forschung passiert. Wir sehen Geräte und Rohre, rote, gelbe, grüne Leuchtschilder, Kabel, Kabel, Kilometer von Kabeln in allen Farben, hunderte Computermonitore, blankpolierten Edelstahl, mit riesigen Muttern zusammengeschraubte Maschinen.

Alle Geräte sind mit Alufolie umwickelt

Alle Geräte, alle Rohre sind mit Alufolie umwickelt. „Die Alufolie hilft beim Bake-out“, erklärt Brandt: „Ab und zu müssen wir die Beamlines lüften. Dabei kommt Feuchtigkeit in die Rohre, und die muss wieder raus.“ Dann wird die ganze Anlage von außen durch Heizbänder erwärmt. Die Alufolie sorgt dafür, dass die Wärme überall gleichmäßig hinkommt.

Wir klettern wir über eine der Wendeltreppen hinunter in die „MX Facility“ – für „Macromolecular Crystallography“ –, eines von vielen Stellwand-Extra-Zimmerchen in der Halle. Dort guckt Jon Hughes in einen Monitor. Er ist Pflanzenphysiologe an der Uni Gießen. Als er erklärt, was er hier macht, dreht und wendet er seine Hände, als wären sie eines der Phytochrom-Proteine, die er erforscht. „Pflanzen können keine Energie verschwenden. Sie schalten ihre Photosynthese-Maschinerie nur ein, wenn es Licht gibt.“

Um das zu erkennen, sind die Phytochrome da. Das Verfahren, mit dem er deren Struktur erforscht, nennt sich Röntgenkristallografie: Die Proteine werden zunächst kristallisiert. Um später ihre dreidimensionale Struktur exakt zu erkennen, braucht es starke Röntgenstrahlen, fokussiert auf den mikroskopisch kleinen Kristall. Das Röntgenlicht saust durch die Probe und wird in unterschiedlichen Richtungen auf einen Detektor gelenkt; der allein kostet schon 1,6 Millionen Euro.

Eine 50 Mikrometer große Kristallprobe

„Das ist doch verrückt“, schwärmt der Wissenschaftler: „Wir haben hier diese riesige Maschine mit 240 Metern Umfang, und ihr Produkt können wir auf unsere 50 Mikrometer große Kristall-Probe fokussieren.“ Hughes ist seit 15 Jahren Stammgast bei Bessy, alle paar Monate bringt er ein paar neue Kristalle vorbei.

In der Beamline nebenan schnurrt ein gelber Roboterarm durch den Raum, greift in einen Behälter voll flüssigen Stickstoffs, es dampft und pufft. Der Arm platziert eine neue Probe in der Experimentierkammer. Er wird gesteuert von Kalvis Brangulis, der in seinem Büro in Riga sitzt, im Latvian Biomedical Research and Study Center, und ist per Videocall mit uns verbunden. Früher saß er hier in Berlin Adlershof, gut 15-mal war er schon da.

Das Bessy-Gebäude von außen. Der Speicherring hat einen Umfang von 240 Metern,

© imago images/Jürgen Held

Auch er untersucht Eiweißstrukturen, allerdings sitzen seine Proteine auf der Oberfläche von den Bakterien, die Borreliose verursachen. Brangulis sagt: „Im Schnitt haben wir an diesem Punkt schon ein Jahr Arbeit in jedes Protein gesteckt. Da ist der Druck hoch. Aber es ist auch schön, wir ernten hier die Früchte unserer Wissenschaft.“ Besonders üppig fällt die Ernte aus, wenn eines der Proteine etwa als Ziel für einen Impfstoff taugt. Bis dahin muss er aber die Strukturen vieler, vieler Proteine kennenlernen, damit er weiß, wie sie sich verhalten und interagieren.

Wer am HZB forschen will, muss nichts dafür bezahlen. Außer Industriekunden wie etwa Bayer, BASF oder Toyota, für die kostet Strahlzeit pro Stunde zwischen 100 und 200 Euro. Dass BESSY so begehrt ist, hat zwei Gründe. Erstens, weil die Anlage diese Röntgenstrahlen überhaupt erzeugen kann. Eine Art Glühdraht entlässt genau getaktete Pakete von Elektronen in den Beschleunigerring. Dort werden die Teilchen von Mikrowellensendern fast auf Lichtgeschwindigkeit katapultiert. Dann sausen sie in den größeren Speicherring und werden dort von Magneten auf ihrer 240 Meter langen Kreisbahn gehalten, bis sie von den Undulatoren, gigantischen, zwei auf zwei Meter großen Magnet-Anordnungen, abgelenkt werden und Synchrotronlicht und damit eben auch das Röntgenlicht abstrahlen.

In der ganzen Maschine herrscht Hochvakuum

Und zweitens, weil die Ingenieur:innen es geschafft haben, dieses Licht einzufangen, zu fokussieren und stabil zu halten. Damit die Elektronen nicht dauernd auf andere Teilchen krachen, herrscht Hochvakuum in der ganzen Maschine, nicht nur in den beiden Ringen, sondern bis hin zu den Beamlines. Das ganze Beschleunigen und Ablenken und Pumpen hier frisst unfassbar viel Energie, Bessy verbraucht so viel Strom wie 7.500 Einfamilienhäuser.

Die Materialwissenschaftlerin Sangeeta Thakur von der FU Berlin nutzte für ihre Forschungen die Beamlines in Adlershof.

© privat

Es ist zehn nach acht und wir treffen Sangeeta Thakur, Materialwissenschaftlerin an der FU Berlin mit Schwerpunkt Computertechnologie. Am Bessy untersucht sie die Eigenschaften superdünner Magnete, die auf Graphit- oder Goldplatten aufgedampft sind. Ihre Doktorarbeit hat sie in Indien gemacht, danach hat sie in Italien an einem Synchrotron gearbeitet; jetzt Berlin-Adlershof. Sie klettert auf ein Gerüst und zeigt, wo sie ihre Proben in die Messkammer einführen kann, die mit flüssigem Helium auf minus 271 Grad Celsius heruntergekühlt wird. Irgendwann könnte das, was sie hier erforscht, etwa als Datenspeicher der Zukunft eingesetzt werden.

Als nächstes werfen wir einen Blick durch eine alarmgesicherte Tür zu EMIL, dem neuesten Anbau am HZB. Hier im Energy Materials In-Situ Laboratory sieht alles noch ein bisschen glänzender und teurer aus, von Photovoltaik-Zellen bis zur direkten Umwandlung von Sonnenlicht zu Brennstoffen wird hier alles erforscht, was mit der Energie der Zukunft zu tun hat. Hier untersuchen Wissenschaftler:innen neue Materialien, um die Produktion von Wasserstoff als grünen Energieträger effizienter zu machen, sie kombinieren organische Verbindungen mit Metall-Hydroxiden, um bessere Katalysatoren zu entdecken und können im EMIL den Ablauf chemischer Reaktionen auf Molekülebene beobachten.

Eine Kollegin schläft unterm Tisch auf der Luftmatratze

Plötzlich ist es zehn Uhr abends. Hätten wir nicht Ernesto Scoppola getroffen, würden wir heimlich gähnen. Er ist so wach, dass es ansteckt, er kann überhaupt nicht aufhören mit Erklären und Zeigen. Scoppola erforscht Bio-Materialien für das Potsdamer Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung. Er ist gerade dabei, die Struktur von Spinnen-Sehnen zu untersuchen. In seinem Versuchsaufbau kann er die Sehnen dehnen oder stauchen, er kann die Luftfeuchtigkeit in der Experimentierkammer ändern und alles auf molekularer Ebene mitverfolgen. „Die Struktur“, sagt Scoppola, „die Struktur verrät uns alles über die Funktionalität eines Materials.“

Um Viertel vor Elf ist Wachübergabe in der Kommandozentrale hoch über der Halle, ein Raum mit riesigen Monitorwänden. Von hier oben schmeißen sie den Laden, die Elektrotechniker:innen, Maschinenbauer:innen, Mechatroniker:innen, Informatiker:innen, sie überwachen, sie messen, passen an.

Noch später, kurz nach Mitternacht kommt BESSY so richtig im Nachtmodus an. Ab und zu schlurft jemand vorbei. Noch gut zwei Stunden lang streifen wir durch die Halle, beobachten, bestaunen nachtaktive Forscher:innen in ihren Habitaten, versteckt hinter Monitoren, kauernd auf Schreibtischstühlen. Ein Chemiker von der TU Berlin strickt einen Schal, seine Kollegin schläft unterm Schreibtisch auf der Luftmatratze. Die Pumpe zwitschert vor sich hin, niemand redet. Alles forscht.

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