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Pflegeschülerinnen des Klinikum Stuttgart im Zentralen Impfzentrum des Klinikum Stuttgart

© Marijan Murat/dpa

Erst Ärzte, Pfleger, Lehrer – Risikogruppen später: Gesundheitsökonomen fordern Umdenken bei der Impfpriorisierung

Sollen die Alten zuerst die Spritze mit dem Corona-Vakzin bekommen? Das plant Gesundheitsminister Spahn – doch nun widersprechen Experten.

Gesundheitsökonomen haben das  Priorisierungskonzept für die geplanten Corona-Impfungen kritisiert. Dabei nach Altersgruppen und individuellem Risiko vorzugehen, wie von Ständiger Impfkommission (Stiko) und Bundesgesundheitsministerium (BMG) vorgesehen, sei falsch und folge einer verkehrten Logik, sagte der Duisburger Gesundheitsökonom und emeritierte Professor für Wirtschaftspolitik, Dieter Cassel, dem Tagesspiegel Background.

Bei der Impf-Reihenfolge dürfe es „nicht darum gehen, wer im Fall einer Ansteckung besonders gefährdet wäre, sondern wer an vorderster Front steht und dort auch noch viele andere anstecken kann“, betonte Cassel.

Die Stiko-Empfehlungen, an denen sich die Regierung nun orientiere, beruhten auf einem Verfahren, das man wählen könne, wenn man genügend Zeit habe und nicht gerade mitten in einer gefährlichen Pandemie stecke. 

Es handle sich dabei um eine „Schönwetter-Priorisierung“, kritisierte der Experte. „Ich halte das nicht für praktikabel in einer Corona-Welle, die nicht abflachen will.“

„Nicht bei Einzelpersonen ansetzen“

Zusammen mit dem Finanzwissenschaftler und Gesundheitsökonom Volker Ulrich aus Bayreuth hatte Cassel schon im Juli, als die Politik die hohe Wahrscheinlichkeit einer zweiten Infektionswelle noch weitgehend verdrängte, die Dringlichkeit einer Impf-Priorisierung betont.

Und in einem dafür entworfenen Detailkonzept drängen die beiden Experten darauf, einer „institutionalisierten Priorisierung“ den Vorzug zu geben – statt einer „personalisierten Priorisierung“, für die sich die Stiko-Experten und mit ihnen die Politik nun entschieden hätten. 

Bei dieser Vorgehensweise seien Auswahlkriterien und Impfziele „an den persönlichen Eigenschaften, Rechten, Befindlichkeiten und Folgen bei der Impfung oder Nicht-Impfung ausgerichtet“, kritisieren die Professoren.

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Das habe zur Folge, dass die mit der Durchimpfung der Bevölkerung verbundenen epidemiologischen Ziele – wie etwa die Durchbrechung von Infektionsketten – und die zu ihrer „Erreichung notwendigen Maßnahmen weitgehend aus dem Blick geraten“.

Eine praktikable und zugleich akzeptable Priorisierung dürfe nicht bei Einzelpersonen und ihrem individuellen Impfbedarf ansetzen, so die beiden Wissenschaftler. Sie müsse vielmehr nach „Personengruppen in ihrem institutionellen Umfeld“ – also etwa in Krankenhäuser, Pflegeheimen oder Schulen – vorgehen.

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Cassel und Ulrich nennen das „epidemische Relevanz“. Und in dem von ihnen präsentierten Impfablauf-Schema ist folgerichtig auch eine Impfpflicht für alle Angehörigen „systemrelevanter Berufe“ vorgesehen. Das, so argumentieren sie, hätte dann den Vorteil, dass von Medizinern und Pflegenden, möglicherweise auch von Lehrern, keine Corona-Gefahr mehr ausginge.

Über 80-Jährige bei der Priorität ganz oben

In dem Verordnungs-Entwurf des Bundesgesundheitsministerium, ist davon nicht die Rede. Als prioritär zu impfende Menschen werden darin zunächst zwei Gruppen genannt: Menschen, die in Betreuungseinrichtungen tätig sind oder dort behandelt werden und solche, die ein „signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf haben“. Als drittes folgen Personen „in zentralen Bereichen der Daseinsfürsorge“.

Ähnlich die Stiko-Empfehlungen, wo die vorrangig zu impfenden Patienten, Pflegebedürftige in stationären Einrichtungen sowie besonders gefährdetes Klinik- und Heimpersonal auf mehr als 3,5 Millionen Personen beziffert werden.

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Dazu kommen dann aber noch ganz generell die über 80-Jährigen, die mit 5,4 Millionen sogar den größten Teil der prioritär zu Impfenden bilden würden. Es folgen Menschen zwischen 75 und 80 Jahren, Patienten mit Demenz oder geistigen Behinderungen und das sie betreuende Personal sowie Mitarbeiter mit „hohem Expositionsrisiko“.

Moderate Priorität wird den 70- bis 75-Jährigen und den Beschäftigten im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) bescheinigt, „erhöht“ wäre sie bei 65- bis 70-Jährigen sowie bei Lehrern und Kita-Beschäftigten.

Kritik am reinen Alterskriterium

Fast neun Millionen Menschen der höchsten Impfpriorität zuzuordnen, helfe wenig, weil das viel zu viele seien, sagt Cassel dazu. Hier brauche es, um Chaos und Verteilungskampf zu vermeiden, schon mal eine detailliertere „Schrittfolge“. Und die Impfberechtigten einfach nach Alter in Fünf-Jahres-Gruppen einzuteilen, mache man es auch sehr einfach. 

Das Problem dabei: Wenn man alle über 60-Jährigen als prioritär zu impfende Risikogruppe präsentiere, habe man 23,5 Millionen Menschen vor sich. Tatsächlich seien viele Ältere topfit, nur ein kleiner Teil leide an wirklich schweren Erkrankungen, so der Duisburger Gesundheitsökonom. 

Diese Menschen, zu denen er selber auch gehöre, könnten sich „als Dienst an der Gesellschaft“ auch jederzeit selber isolieren, um Ansteckung und Gefährdung zu vermeiden. In Kombination mit strikter Einhaltung der AHA-Regeln sei bei ihnen „eine nachrangige Impfung vertretbar“.

Corona-Impfstoff und Impfspritze.
Corona-Impfstoff und Impfspritze.

© imago images/Christian Ohde

In der dreistufigen Impfkaskade der beiden Wissenschaftler kommt deshalb das reine Alterskriterium gar nicht vor. Ganz oben stehen hier „selbständige oder abhängige Erwerbspersonen, die zur Aufrechterhaltung der medizinischen und pflegerischen Versorgung unabdingbar bzw. systemrelevant sind“  – also in entsprechenden Institutionen wie Krankenhäusern, Rehakliniken, Pflegeheimen sowie in zweiter Linie dann auch in ambulanten Praxen und Pflegediensten.

Das Ziel wäre, in diesen Einrichtungen eine „lückenlose Impfung in kürzester Zeit, um die Gesundheitsversorgung insgesamt uneingeschränkt aufrechterhalten zu können“, schreiben die Autoren. Bei der betroffenen Personengruppe handle es sich um schätzungsweise 4,3 Millionen Menschen, was etwa 8,6 Millionen Impfungen bei zwei benötigten Impfdosen im Abstand von etwa einem Monat bedeuten würde. Gegebenenfallls könne man aber auch noch zeitlich gestaffelt „Untergruppen gemäß der funktionsbedingten Infektionsrisiken“ bilden.

Impfpflicht für Mediziner und Pflegekräfte gefordert

Vulnerable Personen mit besonders hohen Infektions- oder Gesundheitsrisiken, also etwa chronisch Herz- und Lungenkranke oder Pflegebedürftige in Heimen kämen diesem Konzept zufolge in einer zweiten Stufe dran – und zwar ohne Impfpflicht. In einer weiteren Untergruppe würden dann Kinder erziehende Eltern, pflegende Familienangehörige, Beschäftigte in Betreuungs- oder Bildungseinrichtungen sowie Zuständige für öffentliche Daseinsvorsorge, Sicherheit und Ordnung folgen.

Durch die geforderte „institutionelle Priorisierung“ würde sich auch die Gefährdung für alle vulnerablen Menschen verringern, die in solchen Einrichtungen betreut werden und ihrer Kaskade zufolge in der Impf-Reihenfolge später kämen, argumentieren die Wissenschaftler.

Ein Impfgegner beteiligt sich an einer Kundgebung für die sofortige Abschaffung der Corona-Einschränkungen.
Ein Impfgegner beteiligt sich an einer Kundgebung für die sofortige Abschaffung der Corona-Einschränkungen.

© Jens Büttner/dpa

Damit das funktioniere, sei für die zuoberst Priorisierten auch eine Impfpflicht erforderlich, die das BMG „unverständlicherweise“ nicht vorsehe, sagt Cassel. Der Wissenschaftler unterscheidet hier aber ausdrücklich zwischen Zwang und Pflicht. Man müsse Impfgegner „nicht von der Polizei abführen lassen“, sagt er. Aber wenn man Kliniken oder Altenheime coronafrei bekommen wolle und die dort befindlichen Kranken und Pflegebedürftigen sichern wolle, dürfe man dort natürlich „keine Lücken lassen“.

Impfpässe fürs Reisen als Anreiz 

Ärzte oder Pflegekräfte, die sich partout nicht impfen lassen wollten, dürften dann eben nicht mehr ans Krankenbett oder an den OP-Tisch, sie müssten sich auf Verwaltungstätigkeiten beschränken. Einer Umfrage in den Berliner Vivantes-Kliniken zufolge wollen sich beispielsweise bislang nur etwas mehr als 70 Prozent der Beschäftigten gegen Sars-Cov-2 immunisieren lassen.

Weil die Impfungen ohne Herdenimmunität aus epidemiologischer Sicht wenig nützen, wünschen sich Cassel und Ulrich zudem Anreize fürs Impfen. Es könne dienlich sein, so schreiben sie, allen Geimpften einen mehrsprachigen amtlichen Impfpass auszustellen, der die erfolgte Impfung dokumentiert. Und der Anreiz lasse sich noch verstärken, wenn es gelänge, diesen Impfpass in EU-Mitgliedsländern zu grenzüberschreitender Mobilität zu nutzen.

Gleichzeitig werde damit nicht wie bei der abgeschmetterten Forderung nach einem „Immunitätsausweis“ behauptet, dass die Geimpften gegen SARS-CoV-2 immun seien und von ihnen keine Infektionsgefahr mehr ausgehe. Das lässt sich nach aktuellem Forschungsstand schließlich noch keineswegs belegen.

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