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Ein Arztführt einen Kind beim Stempeln eines Impfausweises die Hand.

© Kay Nietfeld, dpa

Flüchtlinge und Gesundheit: Akademien fordern Erstuntersuchung für alle

Gesundheit von Asylsuchenden: Akademien fordern für Flüchtlinge in Deutschland Erstuntersuchungen und Impfungen nach einheitlichen Standards.

Von einer „Spannung zwischen Wollen und Können“ sprach jüngst Bundespräsident Joachim Gauck im Zusammenhang mit der Aufnahme von Flüchtlingen. Das gilt auch für die gesundheitliche Versorgung der Asylsuchenden, sagte Jörg Hacker, Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, auf einem Symposium zur „Flucht und Migration: Herausforderungen für Gesundheitsversorgung und -forschung“ in Berlin. Künftig würden Leopoldina, Akademienunion und die Akademie der Technikwissenschaften Acatech gemeinsam einen Beitrag zu einer realistischen, sachlichen Sicht der Probleme leisten.

Falsche Vorstellung von "eingeschleppten" Krankheiten

Meist suchten die Geflüchteten wegen derselben Symptome medizinische Hilfe, die auch die einheimische Bevölkerung plagten, sagte der Psychologe, Gesundheitsforscher und EU-Berater David Ingleby von der Universität Amsterdam. Die „Fremdheit“ der Krankheiten, von denen manche meinen, die Weitgereisten würden sie „einschleppen“, sei nicht das Problem. „Während man zu Beginn der 90er Jahre neben den Traumatisierungen den tropischen Krankheiten Aufmerksamkeit geschenkt hat, sieht man heute: Die Probleme sind großenteils die aller menschlichen Körper.“ Was hinzukommt, sind die Auswirkungen der besonderen psychischen Belastungen.

Auch Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, teilte diese Sicht: „Erste Zahlen zeigen: Von den Flüchtlingen geht keine Gefahr durch Infektionskrankheiten aus.“ Wieler machte allerdings deutlich, dass man mit der Datenlage alles andere als zufrieden ist. Zwar sei sein Institut inzwischen an 19 Forschungsprojekten beteiligt, in denen aktuelle Daten erfasst werden.

Das gesamte Angebot der gesetzlichen Krankenversicherung

„Doch für Empfehlungen mit hohem Evidenzgrad reichen sie bisher nicht.“ Auf jeden Fall gilt: Asylsuchende sollten überall in der Republik eine Erstuntersuchung nach einheitlichen Standards und ein einheitliches Impfangebot bekommen. Und auch während der Asylantrag in Bearbeitung ist, sollten akute und chronische Krankheiten (weiter-)behandelt werden.

Schon länger gilt die Regel als ethisch und rechtlich umstritten, nach der Menschen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus nur wegen akuter Beschwerden und Schmerzen behandelt werden sollen. Vor Kurzem konnten die Versorgungsforscher Kayvan Bozorgmehr von der Uni Heidelberg und Oliver Razum von der Uni Bielefeld belegen, dass sie auch ökonomisch widersinnig ist: Sie werteten Daten des Statistischen Bundesamtes aus den Jahren 1994 bis 2013 aus und stellten fest, dass die Kosten pro Kopf und Jahr um rund 40 Prozent höher liegen, wenn Asylsuchende keinen Anspruch auf das gesamte Angebot der gesetzlichen Krankenversicherung haben.

Kultursensibler Umgang mit seelischen Belastungen

Wer ausschließlich akute Behandlungen zulässt, spart also nur vermeintlich. In den letzten 20 Jahren seien auf diese Weise 1,56 Milliarden Euro verschwendet worden, folgerte Ingleby – und gab seinen deutschen Zuhörern die Botschaft mit: „Auf anderen Gebieten der Migrationspolitik sind Sie besser aufgestellt als bei der Gesundheit.“

Auch die Kurzstellungnahme der Akademien widmet sich schwerpunktmäßig der medizinischen Versorgung derjenigen Asylsuchenden, über deren Status noch nicht entschieden ist. Ihr Vorschlag: Den Erstaufnahmeeinrichtungen sollten Polikliniken in öffentlicher Trägerschaft zugeordnet werden, in denen ständig ein Team von Allgemeinärzten und Dolmetschern verfügbar ist und eine fachärztliche Behandlung beginnen kann. Diese Polikliniken sollten mit Krankenhäusern und den Praxen von Ärzten und Psychotherapeuten vernetzt sein. „Menschen mit Kenntnissen und Erfahrungen im Gesundheitswesen“ aus dem Kreis der Asylsuchenden selbst sollten an der Versorgung mitwirken. Vor allem im Hinblick auf die seelischen Belastungen mahnen die Akademien zum „kultursensitiven Umgang“.

Doppelt so oft wegen Schmerzen zum Arzt?

Viele Konflikte, die sich bei der Behandlung von Migranten ergäben, würden allerdings zu Unrecht unterschiedlichen Kulturen in die Schuhe geschoben, gab der Medizinethiker Walter Bruchhausen von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen zu bedenken: „Kultur taucht in Studien oft als eine Art Restkategorie auf.“ Nur bei wenigen Themen werde sie zum konkreten Problem. So werde die Praxis, Therapieentscheidungen gemeinsam mit dem Patienten zu treffen, von einigen als mangelnde Kompetenz des Arztes erlebt. Ab und an empfänden sie auch den Rat, eine nicht aussichtsreiche Behandlung sein zu lassen, als Ausdruck dafür, dass der Arzt Migranten benachteilige. „Ein grundsätzliches Problem ist sicher auch die Stellung der Frauen in patriarchalen Gesellschaften – und keineswegs nur im Islam.“

Bruchhausen warb dafür, Schwierigkeiten pragmatisch zu lösen. Und er warnte vor Stereotypen: „Zwar stimmt es, dass Frauen mit Migrationshintergrund statistisch gesehen doppelt so oft wegen Schmerzen zum Arzt gehen, aber für den Einzelfall hilft uns diese Erkenntnis überhaupt nicht weiter.“ Zudem seien inzwischen kulturelle Übergänge eher die Regel als die Ausnahme. „Und es gibt kein Zurück in ein wie auch immer geartetes Früher.“

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