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Es gab unzählige Ausgaben von „Mein Kampf“. Doch die Neuedition liefere die für eine umfassende Interpretation nötige Grundlage nicht – auch weil sie spätere Änderungen in den Volksausgaben nicht berücksichtige, schreibt Sösemann.

© IfZ/Alexander Klotz

Gastbeitrag zur Neuausgabe von Hitlers Werk: „Mein Kampf“ – eine Edition mit Schwächen

Propaganda statt Fahrplan zur Macht: Die historisch-kritische Ausgabe verkennt die wahre Bedeutung von Hitlers Werk, erklärt der Historiker Bernd Sösemann in einem Gastbeitrag.

In der Endphase der Weimarer Republik verkaufte der NS-Verlag Franz Eher Nachf., München, Hitlers „Mein Kampf“ mehrere hunderttausend Mal. Darunter waren über 120 000 Exemplare mit einem entstellten Text. Rudolf Heß, der den Druck überwachte, war der Eingriff entgangen. Er bestand zwar nur aus einem einzigen Wort, veränderte jedoch den Sinn der Aussage drastisch.

Die antinationalsozialistische Tat erhielt ihre hohe Bedeutung auch dadurch, dass sie sich gegen das „Evangelium der Bewegung“ richtete, wie Hitlers Anhänger die Propagandaschrift ehrfürchtig nannten. Im dritten Kapitel des ersten Bandes von „Mein Kampf“ hatte ein Unbekannter die folgende Botschaft einfügen können: „Georg Schönerer war nun nicht der Mann, eine Sache halb zu tun. Er nahm den Kampf gegen die Kirche auf in der Überzeugung, nur durch ihn allein das deutsche Volk noch retten zu können. Die ,Los-von-Berlin-Bewegung‘ schien das gewaltigste, aber freilich auch schwerste Angriffsverfahren, das die feindliche Hochburg zertrümmern mußte.“ Hitler hatte geschrieben „Die Los-von-Rom-Bewegung“.

Was wollte Hitler mit „Los-von-Rom-Bewegung“ ausdrücken, und was hatte der Anonymus mit der gegen Berlin umgemünzten Parole im Sinn? Hitler bewunderte den Kampf des österreichischen Politikers Ritter v. Schönerer (1842–1921) für seine antisemitisch-völkische Einstellung („Nicht liberal, nicht klerikal, sondern national“): „Ohne Juda, ohne Rom wird gebaut Germaniens Dom.“ Es erstaunt, dass die Neuausgabe von „Mein Kampf“ (Institut für Zeitgeschichte München, zwei Bände, 1966 Seiten, Eigenverlag 2016) diese Umformulierung nicht aufgeklärt.

Eine eingeschmuggelte Anti-Nazi-Botschaft

Ausführliche Studien bringen Klarheit. Demnach trat die anonyme Änderung am 22. Februar 1932 erstmals auf (11. Auflage), fand sich in genau 120 410 Bänden und wurde erst nach 13 Monaten (20. Auflage) wieder rückgängig gemacht. Die Geschichte der Münchner Druckerei Müller & Sohn bietet weitere Hinweise. Die NSDAP gewann in der Firma kaum Mitglieder. Sie erlitt in der Betriebswahl von 1931 eine vernichtende Niederlage bei den Druckern. Und dort, so darf man vermuten, könnte eine Person, die der SPD oder KPD nahestand, die Tat begangen haben. Die antinationalsozialistische Botschaft „Los-von-Berlin“ symbolisierte die Ablehnung des Ortes der Reichsregierung, einer Kanzlerschaft Hitlers, die Übersiedlung des „Braunen Hauses“ nach Berlin und einer Wahl Hitlers zum Reichspräsidenten.

Ist in dem Verzicht der Herausgeber, die Textabänderung zu untersuchen, ein einmaliger Vorgang oder ein Symptom zu erkennen? Die Druckfassung der Erstveröffentlichungen von „Mein Kampf“ bildet die Grundlage der kommentierten Neuausgabe, die sich an die interessierte Öffentlichkeit und die Fachwissenschaft richtet. Die „Edition mit Standpunkt“ – so das Etikett des anspruchsvollen Versuchs – ist zur „Dekonstruktion“ und „Entmystifizierung“ von „Mein Kampf“ gedacht: „Dass diese Edition klar Stellung bezieht, dass sie interpretiert, ja interpretieren will (dies freilich auch kennzeichnet und überprüfbar macht), mag vielleicht aus der Sicht der klassischen Editionswissenschaft ungewöhnlich scheinen. Aber ungewöhnlich ist auch – und damit sind wir beim Kernproblem des gesamten Projekts – die Edition einer Quelle, deren Historisierung noch immer nicht abgeschlossen ist.“

Ist eine „Edition ohne Standpunkt“ überhaupt möglich? Nicht der „Standpunkt“ entscheidet über Qualität, sondern seine Transparenz, das heißt die Reflexion des methodischen Vorgehens und die Substanz der Erläuterungen. Der erste Satz des Zitats formuliert also eine Selbstverständlichkeit. Der zweite Satz beachtet mit dem Hinweis auf die „noch immer nicht abgeschlossen“ Historisierung die neuere Forschung nicht. Die differenzierte Kontextualisierung, eine auf das historische Umfeld bezogene Einordnung der NS-Epoche, ist seit Längerem geleistet. Die Herausgeber nehmen an, dass „Mein Kampf“ bis heute „ein wirkungsmächtiges, mythisch überladenes Symbol“ von „dunkler Strahlkraft“ sei. Doch allein deshalb soll sich das Buch nicht so präsentieren lassen wie andere historische Quellen? Die NS-Diktatur lässt sich mit dem gleichen methodischen Konzept und quellenkritischen Instrumentarium erforschen wie andere Großereignisse der Geschichte.

Die Textkritik der Neuausgabe ist nicht genau

Die Neuausgabe liefert die für eine umfassende Interpretation nötige Grundlage nicht. Die Erstausgabe wird nicht vollständig wiedergegeben, die Textkritik ist nicht genau genug, der Text dokumentiert nicht einmal eine der aussagekräftigen Selbstinterpretationen des NS-Regimes, da sie die Kolumnentitel verschweigt, die Heß in den Volksausgaben wiederholt umformulierte. Er passte die stichwortartigen Formulierungen am Kopf der Seiten den jeweiligen aktuellen politischen Bedürfnissen und Interessen sorgfältig an. Unter anderem wurde aus „Die germanische Demokratie“ später „Die jüdische Demokratie“, aus „Die Taktik des Marxismus“ wurde „Die Taktik der Sozialdemokratie“ oder aus „Die große, letzte Revolution“ wurde „Vom Volksjuden zum Blutjuden“.

Die Herausgeber neigen dazu, in Hitlers Bemerkungen aus der Mitte der zwanziger Jahre relativ starke Fernwirkungen auf die Zeit der NS-Diktatur zu entdecken. Die NS-Forschung teilt allerdings mehrheitlich die Auffassung nicht, Hitlers Zielvorstellungen seien in „Mein Kampf“ weitestgehend enthalten. Nach eigenem Verständnis wollte Hitler mit seiner Propaganda- und Kampfschrift keinen Fahrplan zur Erringung der Macht konzipieren. Sein Hauptinteresse konzentrierte sich vielmehr darauf, der Orientierungslosigkeit in der NSDAP entgegenzuwirken, Nachfolge-Gruppierungen zu integrieren, die Mitglieder fester an seine Person zu binden und Sympathisanten zu gewinnen.

Unübersehbar. Der Franz Eher Verlag, das Propagandaministerium und weitere Akteure im NS-Staat warben multimedial für den Kauf von „Mein Kampf“ – von 1937 bis 1945 wöchentlich auch mit einem Hitler-Zitat als „Wochenspruch der NSDAP“. 1938 waren bereits über 4,5 Millionen Exemplare der „Volksausgabe“ verkauft.
Unübersehbar. Der Franz Eher Verlag, das Propagandaministerium und weitere Akteure im NS-Staat warben multimedial für den Kauf von „Mein Kampf“ – von 1937 bis 1945 wöchentlich auch mit einem Hitler-Zitat als „Wochenspruch der NSDAP“. 1938 waren bereits über 4,5 Millionen Exemplare der „Volksausgabe“ verkauft.

© FU/AKiP

Doch ihrem engen Verständnis von „Mein Kampf“ folgend, erläutern die Herausgeber das Werk tendenziell stärker als Programm- denn als Propagandaschrift. Wenn Hitler zum Beispiel über „Versammlungsfreiheit“ räsoniert, die von der NSDAP oftmals nur mit Gewalt gegen den „roten Terror“ habe hergestellt werden können, dann verweisen die Herausgeber nicht auf den unmittelbaren zeitlichen Kontext, sondern auf Vorgänge am Ende der zwanziger Jahre und die Gesetzgebung von 1933. Offensichtlich ohne jede Ironie heißt es: „Was darunter konkret zu verstehen“ ist, sollte erst „in den folgenden Jahren deutlich werden“.

"Mein Kampf" ist kein Fahrplan zur Macht

Der Wissenschaftler erkennt die Tendenz des Kommentarteils. Er durchschaut die aus dem persönlichen Verständnis der Herausgeber resultierende Sicht. Doch dem Nicht-Wissenschaftler dürfte die sich daraus ergebende Färbung der Interpretationen schwerlich auffallen. Bei der Lektüre wird sich bei ihm vielmehr die Auffassung verfestigen, Hitler formuliere in „Mein Kampf“ das Programm seines späteren Regimes und die NS-Diktatur habe er nahezu allein geprägt.

Es irritiert, für wie gering die Herausgeber die komplexen Zusammenhänge zwischen dem Text- und dem Bild-Programm von „Mein Kampf“ einschätzen. Bis 1944/45 haben die NSDAP und der Verlag den „Anhang“ bildhaft gestaltet. Der „Führer“ tritt im „Braunhemd“ oder Anzug auf; er erscheint in einer Profil- oder En-face-Aufnahme. Unter den Werbeanzeigen zur NS-Publizistik nehmen „Mein Kampf“ und Hitlers Broschüren den ersten Platz ein. Diese Dokumente und die in sämtlichen Ausgaben in herausgehobener Form eingebundene Ehrentafel für die „Blutzeugen“ (9.11.1923) sollte eine Edition von „Mein Kampf“ nicht unberücksichtigt lassen.

Resümierend ist hervorzuheben: Eine konsequentere Orientierung an den Standards, die sich in der Editorik der jüngeren Geschichtswissenschaft bewährt haben, hätte der Publikation gutgetan. Die Auffassung, „Mein Kampf“ sei eher eine Programm- als Propagandaschrift, wird zwar von einer Minderheit vertreten, das Hauptinteresse des „Führers“ konzentrierte sich jedoch „programmatisch“ vorwiegend auf tagespolitische Notwendigkeiten. Die NS-Propagandisten hatten bereits am 5. Februar 1936 die Zeitungen belehrt: „In der letzten Zeit sind vielfach von unberufener Seite außenpolitische Stellen aus Hitlers Buch ,Mein Kampf‘ zitiert und erklärt worden. Diese Kommentare gehen völlig an der Tatsache vorbei, dass das Buch 1924 korrekt 1925/26] erschienen ist und auf den damaligen politischen Gegebenheiten basierte. Das Buch ist heute eine historische Quelle. In Zukunft soll die ausführliche Besprechung der außenpolitischen Tendenzen dieses Buches unterbleiben.“

Begünstigt wird ein personenbezogenes NS-Verständnis

Wenn die Sachkommentierung der Neuausgabe in „Mein Kampf“ eine weitläufige Programmatik entdeckt, begünstigt sie ein personen- und zu wenig strukturbezogenes Verständnis der NS-Diktatur. Das ehrgeizige Vorhaben eines Kommentierungsspagats, der die Erwartungen und Interessen von interessierter Öffentlichkeit und Gelehrten gleichermaßen befriedigt, ist trotz der Anstrengungen ebenfalls nicht geglückt. Die Kenntnis- und Verständnisebenen unterscheiden sich zu stark voneinander; das zeigt sich sogar dann, wenn eine Spezialterminologie vermieden wird.

Es wäre sinnvoll, „Mein Kampf“ für die breite Öffentlichkeit mit einer von der Textkritik völlig und vom wissenschaftlichen Apparat weitgehend befreiten Kommentierung zu publizieren. Ein Pädagoge und ein Wissenschaftsjournalist sollten zu den Bearbeitern gehören. Hinweise auf alle Besonderheiten und eine historische Einordnung könnten in einer ausführlichen Einführung und in Erläuterungen vor den einzelnen Kapiteln geboten werden. Es müsste deutlich werden, in welchen Grenzen „Mein Kampf“ zum Verständnis des Nationalsozialismus und der NS-Diktatur beiträgt.

Der Autor ist Professor für Geschichte i.R. an der FU Berlin und leitet dort die Arbeitsstelle für Kommunikationsgeschichte und interkulturelle Publizistik. Er verfasste eine zweibändige Dokumentation „NS-Propaganda“. Im Band 16 des „Jahrbuchs für Kommunikationsgeschichte“, Franz Steiner Verlag, Stuttgart, erschien soeben die ausführliche Kritik zu „Mein Kampf“ (lesen Sie eine längere Fassung hier). Sösemann bereitet derzeit eine Edition der „Wochensprüche der NSDAP“ vor.

Bernd Sösemann

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