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Neue Studien belegen, dass Neandertaler und moderne Menschen gleichzeitig in Europa lebten

Zwei Milchzähne aus einer Höhle in Süditalien und die Reste eines Oberkiefers mit drei Zähnen aus einer englischen Höhle liefern überzeugende Hinweise auf ein urgeschichtliches Europa, in dem Neandertaler und moderne Menschen einige Jahrtausende gemeinsam lebten. Bisher stellte die Zeit vor rund 40 000 Jahren in Europa eine Art Grenze zwischen beiden Menschengruppen dar. Weder gab es Homo-sapiens-Fossilien, die Wissenschaftler eindeutig als älter einstufen konnten, noch Neandertaler-Überreste, die mit Sicherheit deutlich jünger waren.

Zwei Artikel in der Online-Ausgabe der Zeitschrift „Nature“ ändern die Situation. Tom Higham von der Universität Oxford wie auch Stefano Benazzi von der Wiener Universität zeigen, dass der britische Oberkiefer und die italienischen Milchzähne von modernen Menschen stammen, die in der „Neandertaler-Zeit“ vor mehr als 40 000 Jahren lebten.

„Damit reicht aber nicht nur die Geschichte von Homo sapiens in Europa ein paar Tausend Jahre weiter in die Vergangenheit“, erklärt der an der Untersuchung der Milchzähne beteiligte Ottmar Kullmer vom Senckenberg-Forschungsinstitut und Naturmuseum in Frankfurt am Main. „Beide Ergebnisse werfen auch auf die Geschichte der Neandertaler ein neues Licht.“ Die Überlegung, nach der sich die Neandertaler in Europa verabschiedeten, sobald der moderne Mensch auftauchte, kann ad acta gelegt werden.

Verfeinerte Forschungsmethoden sind die Grundlagen für diese Revision. In Frankfurt hatten Ottmar Kullmer und Stefano Benazzi in den letzten Jahren Methoden entwickelt, um die Zähne verschiedener Menschengruppen miteinander vergleichen zu können. Zunächst werden die inneren Strukturen der Zähne mit Computertomografen aufgenommen. Die Daten für einen Zahn werden gespeichert und mit anderen Zähnen verglichen. Zwischen verschiedenen Menschengruppen unterscheiden sich dabei zum Beispiel die Form der Zähne und die Dicke des Zahnschmelzes.

Damit fand Stefano Benazzi die Lösung eines Rätsels, das Frühmenschenforscher seit einem halben Jahrhundert beschäftigt. 1964 hatte man in der Grotta del Cavallo, der Pferdehöhle in Apulien im Südosten Italiens nicht nur die beiden Milchzähne, sondern auch die Reste von Schmuck aus Muschelschalen, Knochenwerkzeugen und Farbe gefunden.

Die Milchzähne waren einem Neandertaler-Kind ausgefallen, analysierte Palma de Cesnola von der Universität in Siena damals. Schmuck, Farbe und den gefundenen Werkzeugtyp dagegen traute man eher den modernen Menschen zu. Ganz offensichtlich aber gehörten diese Funde und die Zähne zusammen. Hatten also die Neandertaler ein Faible für Schmuck und Fähigkeiten als Werkzeugmacher? Es konnte wohl kaum anders sein. Die Utensilien wurden als „Uluzzien-Kultur“ den Neandertalern zugeordnet.

„Schon als ich mir gemeinsam mit Stefano Benazzi Abbildungen der beiden Milchzähne aus der Grotta del Cavallo anschaute, kamen uns Zweifel an dieser Zuordnung“, erinnert sich Ottmar Kullmer. Danach stürzte sich der Forscher wieder einmal in die Zahn-Analyse. Weil es kaum Daten von Milchzähnen gab, mit denen er die Scans aus der Pferdehöhle vergleichen konnte, dauerte das Ganze etliche Monate. Katerina Harvati von der Universität Tübingen scannte in ihrem Computertomografie-Labor zum Vergleich andere gefundene Zähne von Neandertalern und modernen Menschen.

Ergebnis: Die Milchzähne stammen keineswegs wie ursprünglich angenommen von Neandertalern, sondern von modernen Menschen. Damit ist auch die Uluzzien-Kultur keine Neandertaler-Errungenschaft mehr.

Gleichzeitig hatte Katerina Douka an der Universität Oxford mit der Radiokarbonmethode das Alter der Schmuck-Muschelschalen bestimmt, die in exakt der gleichen Schicht wie die beiden Milchzähne in der Pferdehöhle lagen. Diese Analyse brachte die nächste Sensation: Die Funde in dieser Schicht sind 43 000 bis 45 000 Jahre alt. „Die Geschichte des modernen Menschen in Europa geht also ein paar Tausend Jahre weiter als bisher bewiesen in die Vergangenheit zurück“, erklärt Kullmer. Moderne Menschen und Neandertaler teilten sich für Jahrtausende den gleichen Lebensraum.

Einmal angekommen, tauchte Homo sapiens damals offensichtlich rasch in verschiedenen Regionen des Kontinents auf. Das zeigen Tom Higham und seine Kollegen mit einer neuen Altersbestimmung eines Oberkiefer-Restes, der bereits 1927 in England gefunden wurde. 1989 hatten Forscher diesen Knochen zwar mit der Radiocarbonmethode bereits auf ein Alter von 35 000 Jahren bestimmt. Allerdings waren wohl Klebstoffreste aus heutiger Zeit mit analysiert worden, die das Ergebnis verfälscht haben könnten.

Für eine neue Analyse war der Klebstoff-freie Rest des Knochens zu klein. Also untersuchten die Forscher Knochen von Wölfen, Hirschen, Höhlenbären und Wollnashörnern, die in der Umgebung gefunden wurden. Lage und Alter dieser Funde grenzten das Alter des Kiefers auf 41 000 bis 44 000 Jahre ein. Eine Analyse der Zähne im Knochen zeigte obendrein, dass die Forscher die Reste eines Homo sapiens vor sich hatten. Nach nur wenigen Jahrtausenden waren die modernen Menschen also aus dem Süden bis in den Nordwesten Europas vorgestoßen.

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