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Genetik: Die Bestimmung der Zelle

Von Berlin nach Boston: Alexander Meissner untersucht am Broad-Institut, wie Gene programmiert werden.

Er nimmt es einem nicht übel, wenn man ihn für einen Studenten oder Doktoranden hält. Das geschieht dem 32-jährigen Genforscher ständig. Alexander Meissner - blaugraue Augen, dunkelblondes, sorglos gescheiteltes Haar, Dreitagebart - ist aber nicht nur jung, er beherrscht zudem die Kunst des Understatements. Fast schüchtern schaut der Molekularbiologe mit leicht gesenktem Haupt empor, konzentriert darauf, die Fragen möglichst konkret und griffig zu beantworten. Er scheint sich über das wachsende Interesse an seiner Person noch immer zu wundern.

Dabei ist Meissner auf dem besten Weg, ein Star seiner Zunft zu werden. Seit Anfang des Jahres ist der waschechte Berliner "Assistant Professor" an der Harvard-Universität in Cambridge, USA, und zugleich Mitglied des Broad-Instituts, einer 2003 gegründeten und bereits sehr angesehenen Forschungseinrichtung. Sie bietet Wissenschaftlern der Bostoner Top-Universitäten die Möglichkeit, auf gemeinsamen Plattformen biomedizinische Forschung zu betreiben.

Seit kurzem kann Meissner zudem neue Mitarbeiter engagieren und auf Einkaufstour gehen, um für sein Labor ein paar der modernsten und teuersten Genomik-Maschinen zu bestellen. Die Nationalen Gesundheitsinstitute der USA gaben am 30. September bekannt, dass sie in den folgenden fünf Jahren eine Reihe von Forschergruppen mit einem mehr als 190 Millionen Dollar teuren Programm unterstützen werden - und Meissners Team ist eines davon. Zusammen mit einer zweiten Gruppe das Broad-Instituts erhält er etwa 15 Millionen Dollar.

Bei dem Programm handelt es sich um das Epigenomprojekt, in dem biochemische Schalter um und an der Erbsubstanz DNS analysiert werden sollen. Mit diesen Schaltern legen einzelne Körperzellen fest, welche Teile ihres Erbguts aktivierbar sind und welche nicht. Gemeinsam bilden sie das Epigenom. Es ist von Zelltyp zu Zelltyp verschieden und bestimmt dessen Entwicklungspotenzial und viele andere Eigenschaften ganz entscheidend mit. "Man kann mit Recht behaupten, dass die Erkundung des menschlichen Epigenoms das nächste große Ziel der Genomforschung ist", sagt Meissner.

Epigenetische Programmierungen schenken der Zelle ihre Bestimmung. Sie sorgen zum Beispiel dafür, dass eine Stammzelle sich zu einer von vielen möglichen, spezialisierten Körperzellen entwickelt, sie vermitteln zudem die Einflüsse eines bestimmten Lebensstils auf unser Erbgut und sie sind vermutlich an der Entstehung vieler Krankheiten wie Krebs und Diabetes beteiligt.

Meissner und Kollegen wollen jetzt die chemischen Markierungen von 100 verschiedenen menschlichen Zelltypen ausfindig machen und damit das Geheimnis der Identität einzelner Zellen lüften. Der junge Forscher ist sich der Dimension der Aufgabe bewusst: "An der Entschlüsselung des ersten menschlichen Genoms haben viele Gruppen jahrelang gearbeitet. Doch in unserem Fall geht es nicht nur um ein einzelnes Genom, sondern um hunderte, viel komplexer strukturierte Epigenome."

Dass man sich eine solche Riesenaufgabe heute überhaupt vornehmen kann, hat vor allem mit dem atemberaubenden technischen Fortschritt zu tun: Die Sequenzier-Roboter, die den Gentext mitsamt seiner anhängenden epigenetischen An- und Ausschalter lesen, sind inzwischen sehr viel schneller und auch billiger geworden als noch vor zehn Jahren. Meissners Team und weitere Kollegen vom Broad-Institut haben zudem gerade erst bewiesen, dass sie mit diesen Geräten trefflich umgehen können: Im Fachblatt "Nature" veröffentlichten sie die erfolgreiche Kartierung der Epigenome von 17 verschiedenen Mauszellen (Online-Ausgabe vom 6. Juli).

Meissner legt Wert darauf, dass er einen großen Teil seines Erfolgs dem Umfeld verdankt: "Die Plattformen sind das Besondere am Broad-Institut", sagt er. "Es ist sehr viel produktiver, wenn man nicht alles mit seiner eigenen Gruppe machen muss." Sein siebenköpfiges Team sei zum Beispiel spezialisiert darauf, Zellen für eine Genom-Analyse vorzubereiten, eine andere Gruppe besorge dann die eigentliche Sequenzierung des Erbguts. "Jeder macht nur das, wofür er die optimale Ausstattung hat und womit er sich am besten auskennt."

Der Direktor des Broad-Instituts ist kein geringerer als Eric Lander, der maßgeblich an der Entschlüsselung des menschlichen Genoms beteiligt war. Und auch Meissners Doktorvater wird immer mal wieder als Nobelpreiskandidat gehandelt. Es ist Rudolf Jaenisch vom Bostoner Massachusetts Institute of Technology, einer der Pioniere der Gentechnik und Stammzellforschung.

Alex, wie Meissner nach sieben Jahren in den USA allseits genannt wird, ist ehrgeizig und selbstbewusst: "Zu Jaenisch bin ich gegangen, weil ich in einem der führenden Labors arbeiten und die neuesten Techniken lernen wollte." Bis zum Alter von 25 Jahren lebte er in Berlin, wuchs in Wilmersdorf auf, besuchte das Walther-Rathenau-Gymnasium und machte sein Biotechnologie-Diplom an der Technischen Universität. Dann zog es ihn in die USA, wo er zunächst half, die Nukleartransfer genannte Methode zu perfektionieren, bei der man genetisch identische embryonale Stammzellen aus geklonten Körperzellen gewinnt.

Zuletzt war er maßgeblich an Experimenten mit induzierten pluripotenten Stammzellen beteiligt, die nicht mehr per Klonen, sondern auf dem Weg der gentechnischen Umprogrammierung entstehen. Mit seiner eigenen Gruppe stürzt er sich jetzt nicht nur in das komplexe Feld der Epigenetik, sondern arbeitet auch weiter in der Stammzellforschung.

Die beiden Gebiete ergänzen sich hervorragend, findet Meissner. "Wir hoffen, die Differenzierung von Zellen und die Entstehung von Krankheiten besser zu verstehen", nennt Meissner seinen Ansporn. Was passiere zum Beispiel mit einer Stammzelle, damit sie auf dem einen oder dem anderen Entwicklungsast landet? An welchen Genschaltern müsse man drehen, um etwa eine Hautzelle in eine Nervenzelle zu verwandeln? Welches epigenetische Programm mache manche Zellen bösartig oder funktionsunfähig? Könne man diese Fragen endlich beantworten, wäre die Genforschung ein entscheidendes Stück vorangekommen, sagt er.

Schade, dass derart spannende Fragen vermutlich einmal mehr im fernen Amerika beantwortet werden. Dabei wäre der Berliner fast in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Nach der Promotion bewarb er sich auch am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik. Leider erfolglos. Man munkelt, er sei für die Stelle schlicht zu jung gewesen.

Meissner selbst kennt die Gründe nicht, fügt aber fair hinzu: "Nachdem ich mich am Berliner Max-Planck-Institut beworben habe, habe ich noch zwei wichtige Studien publiziert, bevor ich mich in den USA auf Jobsuche begeben habe." Ohne diese "Arbeitsnachweise" hätten sie ihn wahrscheinlich auch in Boston nicht genommen. Scheint so, als habe der Forschungsstandort Berlin einfach nur Pech gehabt.

Peter Spork

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