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Adriane Feustel gründete im Jahr 2000 das Alice-Salomon-Archiv an der gleichnamigen Berliner Fachhochschule für Soziale Arbeit (ASH).

© Michael Schaaf/ASH

Geschichte einer Berliner Sozialreformerin: „Alice Salomon lehnte die Almosen-Mentalität ab“

Die Historikerin Adriane Feustel erklärt ihre Faszination für die in Berlin geborene Frauenrechtlerin und Sozialreformerin Alice Salomon, die der Sozialen Arbeit als Wissenschaft den Weg ebnete.

Frau Feustel, die Alice-Salomon-Hochschule ist nach einer jüdischen Berliner Sozialreformerin benannt, die lange nicht bekannt war. Wie kamen Sie dazu, ihr Werk zu erforschen?
Das war über Umwege. Ich hatte in den 1960ern an der Freien Universität Geschichte und Politikwissenschaften studiert, mich mit der Arbeiterbewegung, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht beschäftigt. Der bürgerlichen Frauenbewegung, zu der Alice Salomon als Bürgertochter zählte, stand ich eher skeptisch gegenüber. Ich entdeckte sie im Grunde durch die Kritik an der Sozialen Arbeit in den 1970er und 80er Jahren.

Worüber wurde damals in dem Bereich diskutiert?
1971 nahm ich einen Lehrauftrag an der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Berlin an, der heutigen ASH. Während in vielen Kiezen Hausbesetzer über Formen selbstbestimmten Zusammenlebens stritten, wurde an der Hochschule die überkommene Sozialarbeit infrage gestellt und über die Neuausrichtung der Ausbildung gestritten.

Inwiefern überkommen?
Kritisiert wurde etwa der Behördencharakter von Sozialer Arbeit, dass man nur aus Verwaltungsperspektive auf die gesellschaftlichen Probleme schaue. Ein weiteres Problem sahen wir darin, dass nach dem Nationalsozialismus die Verbindungen des Berufs mit den sozialen Bewegungen, insbesondere der Arbeiterbewegung abgebrochen waren. Die Kenntnisse der Geschichte des Fachs waren ganz dünn. Wir wollten die Ausbildung auf ein kritisch-theoretisches Fundament stellen, auch über Psychologie, Sozialisation, Wirtschaft und Herrschaftsverhältnisse sprechen.

Wie wurde Sozialarbeit in der Adenauerära denn verstanden?
Es ging viel mehr um Aufsicht und Kontrolle. Ich kann da aus meiner eigenen Geschichte ein Beispiel bringen. Meine Mutter trennte sich früh von ihrem Mann. Dann kam die Ost-West-Teilung, meine Mutter zog vom Osten in den Westteil der Stadt, der Vater blieb drüben und fühlte sich nicht verantwortlich. Sie musste also zwei Kinder ernähren und ihre abgebrochene Schneiderlehre zu Ende bringen. Sie zog zu einem älteren Freund der Familie, der eine große Wohnung hatte und zu Hause lebte, damit wir Kinder betreut waren. Eines Tages kam das Jugendamt und wollte ihr das Sorgerecht entziehen, weil sie in einem eheähnlichen Verhältnis lebte – das war verboten. Sie musste den Mann heiraten, damit ihr nicht die Kinder weggenommen würden.

Warum war Alice Salomon von Bedeutung für die Neuerfindung der Sozialen Arbeit in den 80ern und 90ern?
Die Zeit war ja noch immer überschattet von Nationalsozialismus und Holocaust, wir fragten nach der Verantwortung der Elterngeneration. Für die Fachhochschule, an der ich lehrte, hieß das auch zu fragen: Was passierte eigentlich an der Vorgängereinrichtung, also Salomons Frauenschule, in der Nazi-Zeit? Bürgerliche Sozialreformer:innen wie Salomon, die zwar Jüdin war, aber schon früh konvertierte, standen unter Verdacht, dem Nationalsozialismus zugearbeitet zu haben. Auch ich blieb an Titeln ihrer Schriften hängen wie „Die deutsche Frau im neuen Volksstaat“. Bei genauerer Lektüre entdeckte ich aber: Mit dem Nationalsozialismus hatte sie überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil.

Salomon ging es um sozialen Zusammenhalt und die Frage: Wie ist Gesellschaft möglich?

Adriane Feustel, Gründerin des Alice-Salomon-Archivs

Worin zeigt sich das?
Ihr ging es um das Recht jedes Einzelnen auf Glück. Das war angelehnt an die amerikanische Verfassung, richtete sich aber gerade an die Diskriminierten, die Ausgeschlossenen. Salomon ging es um sozialen Zusammenhalt und die Frage: Wie ist Gesellschaft möglich?

Was prägte Salomons Weltbild?
Der Vater war ein international agierender Kaufmann, weltoffen, liberal, die Mutter im Judentum stark verankert. Gleichzeitig waren die Umstände sehr eng, wie für alle Bürgerfrauen der Zeit: Sie kamen aus der Enge der Familie nicht heraus, ihre einzige Perspektive war die Ehe. Diese Vorstellung war Salomon unerträglich. Sie brauchte Freiheit und Unabhängigkeit, und suchte schon als Jugendliche nach einer Perspektive sich selbst zu ernähren, besuchte etwa Stickereikurse. Sie heiratete nie.

Leitete ihr Engagement ein bürgerlicher Wohlfahrtsgedanke?
Ja, besonders im Judentum gab es einen starken Wohlfahrtsgedanken, also, sich um den Nächsten zu kümmern. Dennoch lehnte Salomon die damals verbreitete Almosen-Mentalität ab. Sie kritisierte, damit würden nur die Geber ihr Gewissen beruhigen. Almosen geben helfe nicht, sondern zementiere eher die Notlagen.

Alice Salomon war eine liberale Sozialreformerin und Frauenrechtlerin, die als eine Wegbereiterin der Sozialen Arbeit als Wissenschaft gilt. 

© IMAGO/Gemini

Warum gründete Salomon ihre eigenen Einrichtungen?
1893 hatte sie ein Aufruf erreicht, Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit zu gründen. Das war eine Reforminitiative aus der Frauenbewegung, aber auch unter Beteiligung der sozialkritischen Lokalpolitiker und akademischer Sozialisten, die sich für die soziale Frage interessierten. Das war ein Versuch, junge Frauen des Bürgertums zu organisieren und anzuleiten, um den hilfebedürftigen Armen zu helfen. Jeannette Schwerin, die Leiterin dieser Gruppen, und Salomon hatten das Konzept, den Frauen eine praktische und eine theoretische Ausbildung zu geben. Sie wollten die größeren Zusammenhänge der sozialen Frage und der individuellen Notlagen begreifen.

Die Sozialwissenschaften waren damals erst im Entstehen …
Ja, und Salomon griff ganz früh die empirische Sozialforschung auf, die sich zu der Zeit in England entwickelte. Sie gab zum Beispiel Empfehlungen, wie die Frauen selbst Untersuchungen zur Lage der Fabrikarbeiterin durchführen konnten. Zudem befasste sie sich mit wissenschaftlichen Theorien von Nationalökonomen und Soziologen der Zeit. Max Weber gehörte zur ersten Generation der Dozenten der Mädchen- und Frauengruppen 1893. Salomon hatte an der Friedrich-Wilhelms-Universität bei jungen, auch politisch engagierten Dozenten wie dem Sozialphilosophen Georg Simmel und dem Nationalökonomen Gustav Schmoller studiert.

Gleichzeitig war sie sich aber auch bewusst über die Kluft zwischen Theorie und Praxis und fragte sich, wie die überwunden werden kann. In einem schönen Zitat von ihr heißt es, die Sozialen Frauenschulen sollen ‚Wissenschaft und Theorie um der Praxis willen‘ betreiben. Und dass die Praxis wiederum ‚sich nicht selbst genug sein darf‘. Beides sollte ineinandergreifen.

Welches Ziel verfolgten Sie, als Sie 2000 das Alice-Salomon-Archiv an der ASH gründeten?
Im Verwaltungsmagazin, im Keller der Fachhochschule, entdeckten wir damals die kompletten Akten von Salomons sozialer Frauenschule, von der Gründung 1908 bis in die Gegenwart. Und von der Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, der von Salomon 1925 gegründeten ersten Frauenhochschule in Deutschland. Durch die Diskussionen um die Geschichte des Berufs, über die wir vorher gesprochen haben, war der Wert dieser Unterlagen deutlich geworden. Das Landesarchiv Berlin erkannte das als Kulturgut an.

Was es nicht gab, war ein persönlicher Nachlass Salomons. Ich kümmerte mich also um die Sammlung all ihrer Schriften, eine Auswahl erschienen dann 1998-2004 in drei dicken Bänden. Zudem fehlten alle persönlichen Dokumente von ihr. Die waren im Zuge ihrer von den Nazis 1937 erzwungenen Emigration verloren gegangen.

Salomon blieb, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, zunächst in Berlin?
Ja, doch 1933 geriet auch sie ins Visier der Nazis. Weil sie gut vernetzt war, bekam sie den Hinweis, dass ihre Akademie für soziale Frauenarbeit von der SS besetzt werden sollte. Sie kam dem zuvor, informierte heimlich den Vorstand und schloss die Einrichtung selbst, um die jüdischen Dozentinnen zu schützen. Zunächst blieb sie noch in Deutschland, 1937 wurde sie von der Gestapo zum Verhör geladen und zur Ausreise gezwungen: Mit der Drohung, sonst käme sie ins Konzentrationslager. Das Verhör protokollierte sie hinterher selbst, ein beeindruckendes, lehrreiches Dokument, in dem deutlich wird, wie banal das Böse daherkommen kann.

Sie emigrierte in die USA, die sie schon von Vortragsreisen kannte. Die Nazis erkannten ihr die Staatsbürgerschaft und ihren Doktortitel ab. Obwohl sie viele Kontakte hatte, darunter auch Albert Einstein, war ihre Karriere praktisch am Ende.

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