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Auf Herz und Nieren. Forscher untersuchen die Gesundheit in Ost und West.

© ddp

Gesundheit: Der "Vereinigungs-Michel"

Die Gesundheit in Ost und West hat sich angeglichen, aber im Osten Deutschlands sind die Menschen deutlich unzufriedener.

Die „Mauer in den Köpfen“, das ist leider nicht nur eine abgegriffene Metapher, sondern ein wissenschaftlich gut untersuchtes Faktum. So war die unvollendete „innere Einheit“ auch auf dem Deutschen Kongress für Psychosomatik und Psychotherapie, der vor kurzem in Berlin stattfand, ein Thema.

Dabei zeigt das Beispiel Gesundheit, wie weit Ost und West sich tatsächlich angeglichen haben. Kurz nach der Wende war in der Ex-DDR – wie in anderen Ostblockländern – die mittlere Lebenserwartung noch erheblich geringer als im Westen Deutschlands. Bei Frauen machte der Unterschied fast zweieinhalb, bei Männern sogar mehr als drei Jahre aus. Diese Differenz hat sich aber rasch verwischt, sagte Thomas Lampert vom RobertKoch-Institut. Er verwies auf die von ihm koordinierte Datenzusammenstellung des Bundes Ende 2009: „20 Jahre nach dem Fall der Mauer: Wie hat sich die Gesundheit in Deutschland entwickelt?“

Jetzt sterben nur noch Männer im Osten durchschnittlich etwas früher als im Westen, vor allem an Herz-Kreislauf-Krankheiten. Daneben sind Diabetes und Adipositas im Osten nach wie vor etwas häufiger als im Westen.

Der regelhafte Zusammenhang zwischen schlechten sozioökonomischen Verhältnissen und riskantem Gesundheitsverhalten (wie Fehlernährung, Bewegungsmangel, Rauchen, Alkoholmissbrauch) zeigte sich auch im Ost-West-Vergleich deutlich. Seit der real existierende Sozialismus aber als Risikofaktor entfällt, streut das Armuts- und damit das Krankheitsrisiko quer durch Deutschland: Wo auch immer die Lebensbedingungen schlechter sind (Bildungsferne, geringes Einkommen, Arbeitslosigkeit), da herrscht auch mehr Krankheit, ob in den alten oder den neuen Bundesländern.

„Wie aber steht es um die seelische Gesundheit im Osten Deutschlands?“, fragte Frank Jacobi von der Technischen Universität Dresden. Sind seelische Störungen hier häufiger, wie oft behauptet? Nach all den Belastungen und Unsicherheiten der Wendezeit wäre das plausibel. Aber in sorgfältigen Studien zeigten sich kaum Unterschiede zwischen Ost und West. Die Ostdeutschen scheinen sogar etwas weniger unter psychischen Störungen zu leiden. Ihre Lebenszufriedenheit jedoch erwies sich als geringer.

Viel Unzufriedenheit wird vor allem im Zusammenhang mit der Einheit geäußert. Der Sozialwissenschaftler Wolf Wagner stellte den „Vereinigungs-Michel“ vor. Dieser janusköpfige deutsche Michel ist, als idealtypischer Durchschnittsbürger, ein jüngerer Bruder des „Klima-Michel“. Ihn erfanden Meteorologen, um die oft erhebliche Diskrepanz zwischen gemessener und „gefühlter“ Kälte besser zu verstehen.

Noch mehr klaffen reale und gefühlte Vereinigung auseinander. Objektiv ist sie abgeschlossen, der doppelte deutsche Michel hat heute nur einen Leib. Subjektiv jedoch, also im Kopf, sind Ost- und Westdeutsche noch lange nicht eins. So fanden beim „Thüringen-Monitor“ 2008, noch über 60 Prozent der Befragten, Westdeutsche behandelten Ostdeutsche wie „Menschen zweiter Klasse“. Unter den 18- bis 20-Jährigen waren sogar 76 Prozent dieser Ansicht. Vor allem die Familien der Vereinigungsverlierer, so Wagner, tradierten das Vorurteil, der Westen sei an allem schuld. Ein Fünftel der ostdeutschen Bevölkerung erwies sich als DDR-nostalgisch.

Auch im Westen gedeihen massive Vorurteile, und zwar in allen Schichten, umso mehr, je weniger Ostdeutsche man kennt. „Die Ostdeutschen sind die Ausländer der Westdeutschen“, formulierte Wagner, und er fasste zusammen: „Der Vereinigungs-Michel, der die Vereinigung besonders kritisch sieht, ist wenig formal gebildet, arbeitslos oder auf einem unsicheren Arbeitsplatz, ökonomisch depriviert, ohne Kontakt zur anderen Seite, autoritär, fremdenfeindlich und rechtsextrem mit Distanz zum Wert Freiheit.“

Immerhin hat die positive Bewertung der Einheit in den vergangenen 20 Jahren in Ost und West zugenommen. Einzelne politische und wirtschaftliche Aspekte werden dennoch kritisch gesehen, vor allem in den neuen Bundesländern und dort besonders von älteren Männern. Die Annäherung nimmt zwar zu, aber auf die Frage, wie lange es wohl noch dauern werde, bis zusammenwächst, was zusammen gehört, war die niedrigste der angegebenen Zeitspannen 16,1 Jahre. Viele sagen sogar: „Nie!“ Rosemarie Stein

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