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Eine Marke wird mit einer Pinzette aus einem Briefmarkenalbum gezogen.

© picture-alliance / gms

Philatelie als Kulturwissenschaft: Hohe Schule des Briefmarkensammelns

Briefmarken, ein aus der Mode gekommenes Hobby? Für Aby Warburg waren sie „Bilderfahrzeuge“, für Walter Benjamin „Atlanten der Ideenwelt“. Bis heute sind Kulturwissenschaftler vom Markensammeln fasziniert.

Aby Warburg sammelte Briefmarken, Walter Benjamin sammelte Briefmarken. Auch Siegfried Kracauer sammelte Briefmarken. Da sind schon einmal drei Geistesheroen des ersten Jahrhundertdrittels beisammen, die den bedruckten Papierzettelchen huldigten. Und drei, die miteinander zu tun hatten, als es um die Würdigung der Briefmarke als etwas anderem, Größerem ging, als nur ein Frankaturbeleg für Postsendungen zu sein.

Kracauer, Ende der 1920er Jahre Feuilleton-Redakteur der „Frankfurter Zeitung“, war es, der Benjamins Stück „Briefmarken-Handlung“ 1927 zum Abdruck brachte, nachdem dieser ihm im Jahr zuvor geschmeichelt hatte: „Auch werden Sie vielleicht eines Tages diejenige Rettung des Briefmarkensammelns schreiben, auf die ich so lange schon warte, ohne sie wagen zu wollen.“

Heraus aus dem Odium bürgerlichen Feierabendvergnügens

„Gerettet“ werden musste das Briefmarkensammeln durchaus nicht. Es stand, anders als heute, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in vollster Blüte. Doch nobilitiert werden konnte es durchaus, heraus aus dem Odium bürgerlichen Feierabendvergnügens. Dies leistete kein Geringerer als Aby Warburg, der Hamburger Bankierssproß und Privatgelehrte, der die Kunstgeschichte zur Kulturwissenschaft weitete und mit seinem Lebensthema des Nachlebens der antiken Bildwelt die Ikonologie begründete.

Warburg (1866-1929) erlebt hierzulande seit bald zwei Jahrzehnten eine geradezu beängstigende Renaissance. Alle Geisteswissenschaft beruft sich auf ihn, und so musste man der Tagung „Philatelie als Kulturwissenschaft“ mit einem gewissen Bangen entgegensehen, die das Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) in Zusammenarbeit mit dem Museum für Kommunikation, dem Hüter umfassender Briefmarkensammlungen, unlängst dortselbst veranstaltete. Doch blieb die Heldenverehrung von Warburg und Benjamin glücklicherweise aus.

Die Nähe der beiden ist denn auch nur eine virtuelle. Tatsächlich sind sie einander nie begegnet, und dass Warburg das ihm zugesandte Trauerspielbuch von Benjamin ungelesen seinem Mitarbeiter Fritz Saxl weiterreichte, sagt genug. Warburg sprühte vor Assoziationen und kühnen Gedanken, und so, wie er seine berühmte „Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg“ (K.B.W.) nach dem eigenwilligen „Prinzip der guten Nachbarschaft“ ordnete, betrieb er auch seine Forschungen.

Briefmarken sind "Visitenkarten im Weltverkehr"

Die Briefmarke als „Visitenkarte im Weltverkehr“ leistete dabei bemerkenswerte und bis heute unterschätzte Dienste. Denn wo, wenn nicht in diesem am massenhaftesten verbreiteten Bildträger – Warburg prägte für derlei den Ausdruck „Bilderfahrzeug“ –, wären die Spuren älterer Bildvorstellungen aufzufinden? Frank Zöllner, Leipziger Lehrstuhlinhaber für Kunstgeschichte, wies auf die frühe Prägung des Gelehrten durch die Frankatur hin. Anhand der bereits seit den 1860er Jahren gängigen Briefmarkenalben zeigte Zöllner, wie die Ordnungsprinzipien der Philatelie auf die Konzeption von Warburgs spätem, umfassend gedachten Bildatlas „Mnemosyne“ ausstrahlten.

In seinen Vorträgen der zwanziger Jahre, die Warburg lediglich anhand von Notizen zu halten pflegte, kamen Bildtafeln zum Einsatz, die zumeist nicht erhalten, doch in Fotografien überliefert sind. Hier konnte Warburg nach Belieben kombinieren, konnte auch die realen Größenverhältnisse außer Kraft setzen und beispielsweise riesige Brüsseler Wandteppiche mit einzelnen Briefmarken zusammenbringen.

Herrscherporträts, die Germania oder die Britannia

Als Motive kamen zu einer Zeit, da es noch nicht die heute inflationären Sondermarken, sondern nur hoch offizielle Staatlichkeitsbelege gab, Herrscherportraits, Symbole, Personifikationen wie die Germania oder die Britannia sowie Nymphen infrage. Gerade die Nymphen scheinen unmittelbar der Renaissance entsprungen. Sie finden sich, in dynamischer Körperhaltung nahezu identisch, etwa auf Botticellis Rätselbild des „Frühlings“. Das Modell für die „Anordnung und Variabilität“ dieser Bildertafeln, führte Michael Diers (Hochschule für Bildende Künste, Hamburg und HU Berlin) aus, leite sich „unmittelbar aus den schwarzen Seiten des Einsteckalbums ab“. Hier fand Diers dann auch eine Anknüpfung an Benjamin. Der charakterisiert in seiner Skizze „Briefmarken-Handlung“ die Briefmarkenalben als „magische Nachschlagewerke“ und „Atlanten der Ideenwelt“. Bis in die Sprache hinein zeige sich so eine „auffällige Parallelität“ zwischen den kunsthistorisch motivierten Sammlern.

Hochrangige Geisteswissenschaftler Liebhaber der Briefmarkenkunde

Diers konnte mit der Entdeckung aufwarten, dass sich in Warburgs Zettelkästen ein Ausschnitt von Benjamins Text in der „FZ“ gefunden habe. „Während Warburg das Wort zum Bild sucht, sucht Benjamin das Bild zum Wort“, erklärte der Kunsthistoriker. Also doch eine Wahlverwandtschaft?

Nein, Warburg und Benjamin sind hinsichtlich der Begründung einer Bildwissenschaft allenfalls ferne Verwandte, gleichen Ranges allein in der Singularität ihres Denkens. Man kann das, was sie zur Briefmarke gedacht haben, nebeneinander stehen lassen, ohne es ins Prokrustesbett einer gemeinsamen Wissenschaftsbegründung zu zwingen.

Die Sammelleidenschaft von Kindern und Jugendlichen mag in den vergangenen Jahrzehnten massiv abgenommen haben. Doch für Kulturwissenschaftler hat die Briefmarkenkunde offenbar bis heute eine große Faszination. Jedenfalls entpuppten sich bei der Berliner Tagung hochrangige Geisteswissenschaftler, die jedweden Diskurs zum „cultural turn“ verinnerlicht haben, als sachkundige Liebhaber der Briefmarkenkunde. So fanden Referate über die Briefmarkenproduktion Afghanistans von Franz-Josef Pütz oder die des Iran von Roman Siebertz ebenso aufmerksame Zuhörer wie dasjenige von Silke Plate (Universität Bremen) über die „Untergrundbriefmarken der polnischen Oppositionsbewegung der 1980er Jahre“.

Wieland Herzfelde überlebte dank der Briefmarken im Exil

Warburg selbst war mitnichten der unpolitische Renaissanceforscher, als der er bisweilen hingestellt wird. Vielmehr arbeitete er in seinen Bildvergleichen bevorzugt mit den propagandistisch aufgeladenen Briefmarken des Mussolini-Regimes. Und dann war noch ein Brüderpaar leidenschaftliche Sammler, von denen man es nicht vermutet hätte: John Heartfield und Wieland Herzfelde. Über sie berichtete Detlev Schöttker vom ZfL. Die beiden überzeugten Kommunisten mussten ins Exil, aber wusste man, dass Wieland in New York nur dank eines kleinen Briefmarkengeschäfts überlebte? John Heartfield seinerseits entwarf Quasi-Briefmarken als Anti-Nazi-Propaganda für die nach Prag exilierte „Arbeiter Illustrierte Zeitung“ (AIZ). In Aby Warburg hätte seine Bildpropaganda einen würdigen Motivforscher gefunden.

Für die Weimarer Republik erfand Benjamin eine Marke

Mit der Briefmarkengestaltung der Weimarer Republik war Warburg indes ewig unzufrieden. Daher lancierte er einen eigenen Entwurf für eine paneuropäische Luftpostmarke, den er sogar Reichskanzler Gustav Stresemann aufnötigte, wenn auch ohne Erfolg. Über die Marken der jungen Weimarer Republik hatte der Kunstkritiker Max Osborn unter dem Titel „Die Briefmarke als Kunstwerk“ bereits 1921 geschrieben, mithin sechs Jahre vor Warburgs Vortrag.

Das Büchlein wurde während der Tagung zwar erwähnt, jedoch nicht näher beachtet. Dabei lohnt der Blick in Osborns Zeilen. „Niemals“, schreibt er, „ist der symbolische Wert der Postmarke so lebhaft empfunden worden wie in unseren Tagen.“ Warburg konnte wohl deshalb so reiche Ernte einfahren, weil andere das Feld bereits beackert hatten.

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