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Indien: Aus dem Slum auf den Mond

Land der krassen Gegensätze: Indien will Supermacht der Wissenschaft werden – und so auch Armut und Krankheiten bekämpfen

Palmen säumen die Wege. In großzügigen Gebäuden residieren die Forscher, von außen wirkt die Atmosphäre friedlich, konzentriert. Als „Harvard Indiens“ bezeichnet sich das Indian Institute for Science in Bangalore gerne, und zumindest der Campus kann es locker mit einer amerikanischen Elite-Universität aufnehmen. Auf einer Fläche, die fast so groß ist wie der Berliner Tiergarten ist, arbeiten 3000 Wissenschaftler und lernen 2200 Studierende. Eine Oase inmitten der Sechs-Millionen-Stadt Bangalore im Süden Indiens, die für ihre verstopften Straßen berüchtigt ist. Früher gehörte das Land des Campus dem Maharadscha, bis er es am Ende des 19. Jahrhunderts dem Begründer der Universität überließ: Jamshedji Tata, dem Vater des heute weltweit bekannten Firmenimperiums der Tatas. Er wollte eine Schmiede für die Natur- und Technikwissenschaften schaffen.

Tata wacht noch immer als Denkmal vor dem Hauptgebäude. Innen sitzt Govindran Rangarajan im repräsentativen Empfangssaal der Hochschule, dessen Einrichtung der Kolonialzeit nachempfunden ist. Rangarajan ist in der Unileitung für die internationalen Beziehungen zuständig. Als Mathematiker arbeitet er an Modellen, wie schnell sich Teilchen ausbreiten. Er schwärmt, wie rasant sich Bangalore im letzten Jahrzehnt zur weltweiten Metropole der Informationstechnologie aufgeschwungen hat – und wie seine Universität davon profitiert. Bei Zukunftsthemen wie Nanotechnologie wolle man zur internationalen Spitze aufschließen, in einigen Bereichen sei man schon so weit. „Unser Anspruch ist es, zu den weltweit führenden Universitäten des 21. Jahrhunderts zu gehören“, sagt Rangarajan. Derzeit liegt das IISc – das wie die meisten indischen Spitzenhochschulen eine Forschungsuni ist und hauptsächlich Master-Studenten und Doktoranden ausbildet – im Schanghai-Ranking der weltbesten Unis zwischen Platz 200 und 300. Sie rangiert gleichauf mit der Technischen Universität Berlin.

Rangarajan ist nicht der einzige unter den indischen Forschern, der hochgesteckte Ziele verfolgt. Überall in der Wissenschaftsszene des Subkontinents kann man hören: Binnen zehn Jahren können wir in der Forschung zu den Top Five weltweit gehören. Wie ambitioniert die Inder sind, demonstrierten sie im vergangenen Jahr. Da schoss das Land unter weltweiter Beachtung eine Forschungssonde zum Mond. Die Regierung investiert massiv, um die Ziele zu erreichen. Bis 2015 sollen 1500 neue Universitäten aufgebaut werden, die Zahl würde sich verfünffachen. 50 Milliarden Euro will Delhi in den nächsten fünf Jahren investieren, eine Summe, die in etwa auch die deutsche Bundesregierung in dem Zeitraum für Wissenschaft ausgeben wird. Schwerpunkte der Offensive sollen die Informations-, Bio- und Nanotechnologie sowie die Materialforschung sein.

Indien, bald eine der besten Wissenschaftsnationen der Welt? Für westliche Ohren mag das noch immer absurd klingen. Zwar sind die Zeiten vorbei, in denen das Land allein als exotische Mischung aus Curry und Karma wahrgenommen wurde. Spätestens als Ende der neunziger Jahre Deutschland verzweifelt um „Computer-Inder“ warb, wurde hierzulande vielen bewusst, dass das Schwellenland Indien den reichen Westen in Hightech-Branchen überholen kann. Ausländische Unternehmen wie SAP genauso wie einheimische Firmen haben heute in Bangalore riesige Glaspaläste gebaut, in denen Uniabsolventen zu Tausenden neue Computer-Software für Kunden in aller Welt entwickeln.

Dennoch bleibt Indien das Land der krassen Gegensätze: Während sich ein Teil der Nation zur Software-Schmiede der Welt aufgeschwungen hat, lebt die Hälfte der Bevölkerung von weniger als zwei Dollar am Tag. In der Hauptstadt Delhi wie in den anderen Riesenmetropolen prallen Reich und Arm so unmittelbar aufeinander, dass Besucher aus der ersten Welt oft zutiefst verstört reagieren. Neben den imposanten Bauten für die Reichen und die großen Firmen leben Menschen in Häusern, die halb verfallen sind. Zwischen die Siedlungen der Mittelschicht quetschen sich Slums, in denen den Menschen kaum eine Holzhütte als Unterschlupf bleibt. Kinder betteln hier neben Krüppeln, überall liegt Müll, es stinkt bestialisch. Wie soll da der Sprung zu einer Wissenschaftsnation gelingen?

Am Indian Institute of Science hofft man, massiv vom Wissenschaftsboom zu profitieren. Bisher war es für Govindan Rangarajan schwer, gute Forscher zu halten. Ein Problem, über das alle indischen Unis klagen: Die meisten Nachwuchswissenschaftler verlassen das Land und gehen ins Ausland, vor allem in die USA. Jetzt hat das IISc neue Programme für junge Wissenschaftler aufgelegt. „Alles hängt davon ab, ob wir gute Leute rekrutieren können“, sagt Rangarajan.

Eine, die er für Bangalore gewinnen konnte und die Indiens Aufbruch in die Wissensgesellschaft verkörpern könnte, ist die Zellbiologin Dipshikha Chkravortty. Mit ihrem roten Punkt auf der Stirn und dem blauen, golddurchwirkten Shalwar Kamiz, einem traditionellen Kleid indischer Frauen, wirkt die 35-Jährige so, als sei sie nie aus ihrer Heimat weg gewesen. Tatsächlich kam sie erst vor kurzem von der Uni Erlangen-Nürnberg ans IISc: „Ich will in Indien wissenschaftlich etwas aufbauen“, sagt sie. In ihrem Labor hängt ein Poster mit der Aufschrift: „Das Unmögliche kann man möglich machen. Man erreicht sein Ziel immer, wenn man es nur oft genug versucht.“

Chkravortty forscht an Bakterien, die jedes Jahr Millionen von Menschen in Entwicklungsländern – und auch in Indien – den Tod bringen: Salmonella Typhi, den Erregern des Typhusfiebers. Sie versucht herauszufinden, warum das Bakterium im menschlichen Körper überleben kann und wie es ihn dazu bringt, sich nicht gegen den Eindringling zu wehren. „Ich will einen Impfstoff entwickeln, der besser schützt als der bisherige“, sagt Chkravortty. Mit ihrer Forschung ist sie auf einem guten Weg, grundlegende Erkenntnisse zur Bekämpfung des Typhusfiebers zu gewinnen, sagen Experten.

Doch in Chkravorttys Labor kann man auch sehen, was Indien fehlt, um wirklich in der Weltspitze der Forschung mithalten zu können. Von außen mag der Campus des IISc einer Eliteuni gleichen, in den Gebäuden lässt die Ausstattung zu wünschen übrig. Das liegt nicht nur daran, dass im Labor die Kabel quer durch den Raum hängen und die Ventilatoren ausgefallen sind. Eigentlich müsste Chkravortty an genmanipulierten Mäusen testen, ob ihre Theorien stimmen – doch dafür hat selbst das Harvard Indiens kein Geld. Ein Labor mit erhöhten Sicherheitsvorkehrungen, das unabdingbar ist für viele Forschungen mit gefährlichen Krankheitserregern, baut die Uni gerade erst. Grundlegende Voraussetzungen für Hochleistungsforschung fehlen so. Wichtige Materialien und Geräte aus dem Ausland bleiben monatelang beim Zoll hängen. An vielen Colleges, in denen die Mehrzahl der Bachelor-Studierenden unterrichtet wird, sieht es erbärmlich aus.

Um zwanzig Doktoranden und Master-Studenten kümmert sich Chkravortty. Aus 5000 Bewerbern konnte sie sie wählen. Das ist typisch für Indien: An einer begehrten Uni wie dem Indian Institute for Information Technology in Hyderabad kommen 500 000 Bewerber auf 175 Studienplätze, für die Nehru-Uni in Delhi bewerben sich 100 000 auf 2000 Plätze. Der Kampf ums Studium beginnt für Jugendliche in den letzten Schuljahren, wenn sie bis zu 18 Stunden am Tag lernen, um sich für die Abschlussprüfungen und Aufnahmetests vorzubereiten.

Aus Sicht der Hochschulen müssten das traumhafte Voraussetzungen sein, um die Besten der Besten für die Forschung zu gewinnen. Dennoch sagt Chkravortty: „Es ist schwierig, gute Leute zu bekommen.“ Denn viele Absolventen versuchen, so schnell es geht in die Wirtschaft zu wechseln. Stipendien für Studierende und Doktoranden bleiben dürftig. Etwa 100 Euro bekommen sie im Monat. Viele müssen einen Teil des Geldes nach Hause schicken, um die Familie zu unterstützen. Bei SAP in Bangalore verdient ein Berufsanfänger dagegen schnell mehr als ein Professor an einer indischen Universität. „Den Beruf des Wissenschaftlers gilt in den wenigsten Familien als erstrebenswert“, sagen indische Bildungsexperten. An diesem Missverhältnis wird sich auch künftig nichts ändern. Wo die Regierung so die vielen Wissenschaftler herbekommen will, die an den 1500 neuen Hochschulen lehren und forschen, bleibt schleierhaft.

Viele stellen in Indien auch eine grundsätzliche Frage: Biowissenschaften, Nanotechnologie, gar Mondraketen – ist das wirklich das, was ein Land braucht, in dem hunderte Millionen Menschen hungern, kein fließendes Wasser, geschweige denn Strom haben? Die Regierung vertritt die These, dass jeder wissenschaftliche Fortschritt die wirtschaftliche Situation des Landes verbessern wird. Viele Wissenschaftlern teilen diese Meinung. „Irrelevant“ seien Bedenken, angesichts der Armut im Land könne man sich Hochleistungsforschung nicht leisten, heißt es bei der indischen Akademie der Wissenschaften: „Gute Wissenschaft kreiert immer Reichtum.“

Andere, wie Dipshikha Chkravortty, sind nachdenklicher. Natürlich, ihre Forschung zum Typhusfieber könnte ein Beitrag sein, die prekären Verhältnisse für die Armen etwas zu verbessern, sagt sie. Die Arbeit hat sie auch deswegen angepackt, weil sie das Gefühl hat, dass die Politik gefährliche Krankheiten nicht wirklich bekämpfe. Aber gerade die Mondmission sei das beste Beispiel dafür, dass in Indien Forschung oft unter dem Aspekt gefördert werde, was das Prestige des Landes hebe. Das Geld, sagen kritische Forscher, könnte sinnvoller ausgegeben werden, um die Armut im Land direkt zu bekämpfen.

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