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Wissen: Kalte Fährte

Zahlreiche Kulturen haben versucht, ihre Toten der Verwesung zu entreißen. Mit modernen Methoden können Forscher nun Todesursachen aufklären – und andere Rätsel.

War es Mord? Wurde Tutanchamun hinterrücks erschlagen? Nein, die Knochensplitter im Hinterkopf des jungen Pharaos sind erst nach seinem Tod entstanden, sagt Frank Rühli von der Universität Zürich. Rühli ist Leiter des „SwissMummy Project“ und Paläopathologe. Das heißt er ist gewissermaßen für die Todesfälle zuständig, die schon hunderte oder tausende Jahre zurückliegen: Die ganz kalten Fährten.

Der Forscher hatte auf Bitten der ägyptischen Altertumsbehörde 1700 Schichtbilder begutachtet, die mit einem Computertomografen (CT) von Tutanchamun gemacht worden waren. Diese CT-Aufnahmen lassen einen tiefen Blick in Materialien und Mumien aller Art zu, ohne dass die dafür aufgeschnitten, angebohrt oder sonst wie „verletzt“ werden müssen. Und sie sind um Potenzen detaillierter als herkömmliche Röntgenbilder.

Nach Durchsicht der CT-Bilder der prominenten Mumie ist Rühli überzeugt, dass ein Schlag auf den Kopf als Todesursache nicht infrage kommt: „Wären die Knochensplitter im Hinterkopf zu Lebzeiten entstanden, müssten sie in der Einbalsamierungsflüssigkeit eingeschlossen worden sein“, sagt Rühli. Aber die Mordtheoretiker geben so schnell nicht auf: Woran starb der jugendliche ägyptische König dann so plötzlich? Wurde er vergiftet? Rühli diagnostizierte auf den Tutanchamun-Scans einen bis dahin nicht erkannten Oberschenkelbruch, „der allerdings auch damals nicht zwingend zum Tod geführt haben muss“. Die Fraktur, eine folgende Infektion oder eine mörderische Vergiftung, aber auch eine Durchfallerkrankung könnten das Leben des 19-jährigen Herrschers beendet haben, aber das bleibt Spekulation. „Mit nicht invasiven, also die Mumie nicht beschädigenden Methoden, kommen wir zur Zeit nicht weiter.“

Dafür können die Forscher jetzt aber diagnostizieren, dass Tutanchamun „grundsätzlich sehr gesund war, also weder an einer schweren Erbkrankheit noch an massivem Vitaminmangel gelitten hat“, sagt Rühli. Bei anderen ägyptischen Mumien wurde dank Computertomografie Arterienverkalkung nachgewiesen und jüngst berichtete ein Forscherteam aus Portugal, bei einer Mumie einen Tumor nachgewiesen zu haben. Der Mann war vor 2250 Jahren offenbar an Prostatakrebs gestorben.

Die Mumienforschung konnte sich erst in jüngster Zeit als seriöse Wissenschaft etablieren, ist aber in rasender Eile zu einem interdiszplinären Hightech-Fach geworden. In Europa gibt es derzeit drei Zentren für Mumienforschung: Das Swiss Mummy Project, das „Institut für Mumien und den Iceman“ an der Europäischen Akademie Bozen (Eurac), das sich hauptsächlich um Ötzi kümmert, und das „German Mummy Project“, das 2004 an den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim etabliert wurde.

Anstoß für die Mannheimer Initiative waren 19 Mumien, die vergessen im Museumsdepot lagen. Die daraus resultierende Mumien-Ausstellung lockte vor vier Jahren 200 000 Besucher an, und wird zurzeit in Amerika gezeigt. „Ich hatte nicht gedacht, dass uns das Thema nach der Ausstellung noch so beschäftigen würde“. sagt Wilfried Rosendahl, stellvertretender Direktor der Museen. Doch dann erkannte er das wissenschaftliche Potenzial dieser Thematik: Was für eine Bewandtnis hat es zum Beispiel mit den Gruftmumien, die zunehmend in der Barockzeit hauptsächlich in mittel- und osteuropäischen Kirchenkrypten zur letzten Ruhe gebettet wurden? „Darüber wissen wir so gut wie nichts“, sagt Rosendahl.

Die gängige Vorstellung von Mumien ist geprägt durch die balsamierten Leichen aus dem alten Ägypten. Doch nicht nur am Nil wurde mit künstlichen Mitteln versucht, den Verfall des Körpers aufzuhalten. Auch in anderen Hochkulturen, etwa im prähistorischen Südamerika, bemühten sich Menschen darum, die Körper der Toten zu erhalten. Und unter bestimmten Umständen entstehen Mumien auch auf natürliche Weise: Der „gefriergetrocknete“ Ötzi aus dem 4. Jahrtausend v.Chr. ist ein Paradebeispiel für Dehydrierung und Konservierung durch Luftabschluss und Eiseskälte. Auf ähnliche Weise wurde eine skythische Prinzessin aus dem 1. Jahrtausend v.Chr. im Permafrost des Altai erhalten.

Ganz anders dagegen mumifizierten die im heißen Sand der westchinesischen Takla-Makan-Wüste bestatteten Leichen: Hohe Hitze und ein säurefreier Boden konservierten vor über 3000 Jahren die Körper inklusive ihrer Kleidung so perfekt, dass der Betrachter leicht geschockt ist, wenn er sie anschaut: Sie wirken wie Schlafende, nicht wie jahrtausendealte Leichname und sie sind nach Größe, Hautfarbe, Augenstellung und Nasengröße („Langnasen“) eindeutig (Indo)Europäer. Die menschlichen Opfer in Peru wurden durch die eisige Luft in den Anden auf vier- oder fünftausend Metern mumifiziert oder – wie bei den nordperuanischen Chachapoyas – teilweise einbalsamiert und durch einen stetigen kühlen Luftzug der Verwesung entzogen. Auch Moorleichen aus keltischer und germanischer Zeit sind willkommene Objekte für die Mumienforscher. Die eisenzeitlichen Salzmumien aus den österreichischen Hallstatt-Bergwerken wurden im 18. Jahrhundert nach ihrem Auffinden beerdigt und damit dem Verfall preisgegeben.

Bei der Forschung steht die menschliche Mumie im Vordergrund, aber auch mumifizierte ägyptische Katzen, sibirische Mammuts, fränkische Feuersalamander oder Hyänen aus jordanischen Lavahöhlen wecken das wissenschaftliche Interesse. Bei ihren Untersuchungen haben die Mumienforscher gegenüber den Archäologen, die vom Menschen bestenfalls das Skelett finden, einen unschlagbaren Vorteil: „Ich habe Weichteile, nicht nur Knochen, und an den Weichteilen kann ich Dinge sehen, die ein Skelett nicht mehr erzählt: Drogenkonsum zum Beispiel, Tätowierungen oder eine Hirnhautentzündung“, sagt Rosendahl.

Der wissenschaftliche Einzelkämpfer ist dabei nicht gefragt, es geht nicht ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit. Das German Mummy Project deckt mit eigenen Kräften die Bereiche Datierung, Forensik und Archäometrie ab; die Toxikologie besorgen Kollegen in Bonn, die Ernährungsanalysen werden in Tübingen vorgenommen, bei genetischen Untersuchungen arbeiten die Mannheimer mit dem Ötzi-Institut in Bozen zusammen. Aber auch Chemiker, Physiker, Biologen, Zoologen, Techniker und andere Spezialisten wie etwa Parasitologen sind involviert.

Arbeitsbereiche und Handwerkszeuge haben sich in den letzten Jahren rapide verändert. Chemisch-toxikologische Haaranalysen können etwas erzählen über Vergiftungen oder Rauschmittelkonsum. Isotopen-Untersuchungen von Zahnschmelz geben recht präzise Hinweise auf die Ernährung damaliger Menschen. Mit der Methode, so glaubt Rosendahl, sind zukünftig noch exaktere Hinweise etwa für die geografische Herkunft möglich. Die Genetiker haben mit Mumien oft noch Probleme: An die Knochen kommen sie meist nicht heran, die Weichteile aber sind durch die Jahrhunderte oder Jahrtausende häufig verunreinigt und degeneriert, so dass sich das Erbmaterial nicht gut erhalten hat. Für groß-geografische Nachweise – ist das eine ägyptische oder eine asiatische Mumie? – eignet sich die Genetik gut. Schwierig ist der Nachweis von Familienverhältnissen. „Wir hatten eine Mumiengruppe von einer Erwachsenen und zwei Kindern. Waren das Mutter und Kinder? Das ließ sich über die Genetik nicht verifizieren“, berichtet Rosendahl, der in der Zukunft deutlich bessere Ergebnisse aus genetischen Experimenten erwartet.

Der Königsweg der Mumienforschung aber sind die bildgebenden Verfahren vom simplen Röntgen bis hin zu den ultramodernen Computertomografen und Magnetresonanztomografen (MRT). Diese absolut zerstörungsfreien Untersuchungsmethoden erlauben Blicke in die Tiefen des mumifizierten Körpers, die noch vor kurzem undenkbar waren. So konnte Albert Zink, Leiter des Eurac-Instituts für Mumien und den Iceman, nach einer erneuten Durchleuchtung seines Schützlings mit einem Multislice-CT nachweisen, dass die Pfeilspitze in Ötzis Schulter doch der Todbringer war: Sie hatte, so zeigten es die tausendstelmillimeter-dünnen Schnittbilder, eine Arterie am Schlüsselbein aufgeschlitzt. Das pulsierende Blut schoss in den Brustraum. „Wird diese Arterie getroffen, verblutet man in 15 Minuten“, sagt Zink.

So wäre wenigstens dieser Todesfall geklärt. Neben der Suche nach der Todesursache taucht beim Betrachten einer Mumie offenbar zwangsläufig die Frage auf: Wie hat er/sie ausgesehen? Vor allem in Amerika wird es oft als wissenschaftlicher Durchbruch gefeiert, wenn aus einem Schädel eine Physiognomie wird. Auch Ötzi hat zum 20. Geburtstag seines zweiten Lebens ein neues Gesicht bekommen. Das ist verständlich, denn im Gesicht, vor allem in der Augenpartie, manifestiert sich das menschliche Individuum. Durch eine solche Rekonstruktion „kommt man sich näher“. Deshalb sind derlei Plastiken ein probates Mittel für die museale Darbietung, sie bleiben jedoch Spekulation. Der wissenschaftliche Gewinn tendiert gegen null.

So muss Mumienforschung sich generell die Frage gefallen lassen, was sie eigentlich betreibt. Dietrich Wildung, pensionierter Chef des Ägyptischen Museums in Berlin, sieht in der Mumienforschung „eine Modeerscheinung“ und in der Mumienpräsentation „ein Marketinginstrument für kleine Museen, die sonst nichts Spektakuläres zu bieten haben“. Er vermisst Pietät gegenüber Persönlichkeit und Individualität, wenn „da verschrumpelte, ausgezogene Mumien ausgestellt werden“. Die wissenschaftlichen Ergebnisse ließen sich auch anders – über Texte, Zeichnungen, Videos – vermitteln. Und: „Der Zugewinn an Erkenntnis ist äußerst gering, die Grundtatsachen, etwa im gesundheitlichen Bereich, sind alle bekannt.“

Man muss nicht so harsch urteilen wie Wildung – ein Manko bleibt: Wenn man von den ägyptischen Mumien absieht, beschäftigt sich die Mumienforschung mit Individuen ohne sinnstiftenden Zusammenhang, wie er etwa bei einer archäologischen Grabung zutage tritt. Zudem handelt es sich meist um vereinzelte Stücke, so dass selbst die detailliertesten Kenntnisse dieser einen Mumie keine statistischen oder epidemiologischen Aussagen über die Gruppe oder Population zulassen, in der sie/er gelebt hat.

Aber vielleicht ist das zu viel verlangt von diesem relativ jungen Wissenschaftszweig. Ein Einzelschicksal rührt uns unter Umständen viel mehr an und bringt uns unseren Vorfahren auf einer nicht wissenschaftlichen Ebene viel näher: In der Mannheimer Mumiensammlung fand sich auch „M2“, eine peruanische Mumie mit seltsam nach hinten verdrehten Beinen. Die Frau litt an einer Tuberkulose der Wirbelsäule, was vermutlich zu einer Querschnittslähmung führte. Sie war zwischen 30 und 50 Jahre alt, als sie starb. Die Arme waren über dem Bauch verschränkt, die Hände geballt. Die CT-Bilder zeigten, „dass die Frau zwei gleichförmige, kaum einen Zentimeter große Gegenstände in ihren Händen hält. Diese bestehen vermutlich aus weicherem Metall, womöglich Gold.“ So steht es im Katalog zur Mumienausstellung. Drei Jahre später hat Wilfried Rosendahl sich aus den CT-Bilderdaten die ominösen Stücke dreidimensional fräsen lassen. Aus den vermeintlichen Amuletten wurden zwei Milchzähne. „M2“ – Mutter, Oma? – nahm die ersten Zähne ihres Kindes oder Enkels mit ins Jenseits – auf der anderen Seite der Erde, vor 600 Jahren.

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