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Handleiden als Handicap. Berufsmusikern kann die unwillkürliche Anspannung der Fingermuskulatur zu schaffen manchen.

© picture alliance / dpa

Medizin: Krampf am Klavier

Schumanns Leiden: Unbeherrschbare Muskelanspannungen gefährden die Karriere von Musikern.

Ein Krankheitsfall wurde zum Glücksfall, auch wenn der Betroffene erst einmal todunglücklich darüber war. Der junge Robert Schumann wollte das ungeliebte Jurastudium an den Nagel hängen und strebte eine Karriere als reisender Klaviervirtuose an. Viele Stunden täglich übte er besessen die schwierigsten Stücke ein. Und der schüchterne, lampenfiebergeschüttelte zwanzigjährige Student hatte auf Anhieb Erfolg. Aber sein erster großer öffentlicher Auftritt, 1830 in Heidelberg, war auch sein letzter.

Ein Handleiden wurde zum Handicap für die vielversprechende Pianistenlaufbahn. Schon zwei Tage nach dem umjubelten Konzert erwähnte er seinen „betäubten Finger“: Der Mittelfinger der Rechten krümmte sich krampfhaft und unbeherrschbar, was zu großen spieltechnischen Schwierigkeiten führte. Ein Jahr später schrieb er ins Tagebuch: „Mit dem Clavier ging's einige Tage herzlich miserabel, gestern weint’ ich vor Wuth. – Hätt ich nur keine Finger und könnte mit meinem Herzen spielen …“

Bis 1833 versuchte Schumann noch alles Mögliche und Unmögliche, um den Dauerkrampf des Fingers, der nur beim Klavierspielen auftrat, zu besiegen. Er befolgte brav die gerade modischen ärztlichen Ratschläge, aber Homöopathie und Magnetismus nutzten ebenso wenig wie das Wühlen in warmen Rindergedärmen im Schlachthof. Eine Weile konnte er sich noch mit einer selbst gebastelten, am Klavier befestigten Schlinge behelfen, die den Finger hinderte, sich unwillkürlich einzurollen. Dann musste er die Karriere als reisender Virtuose aufgeben.

„Für die Nachwelt ist Schumanns Verstummen am Klavier ein Segen, denn so konnte er seine Stimme als Komponist zur meisterlichen Vollendung entwickeln“, meint Eckart Altenmüller. Der Neurologe ist Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Hochschule für Musik und Theater Hannover und Spezialist für die schwierige Behandlung des Musikerkrampfes. Bei einem Vortrag in Berlin nannte er Robert Schumann seinen „liebsten Patienten“. Dessen Handleiden ist der früheste gut dokumentierte Fall einer Musiker-Dystonie (Definition siehe hier). Dank vieler Briefe und Aufzeichnungen konnte lange nach seinem Tod die richtige Diagnose gestellt werden.

Der Musikerkrampf, der nur beim Spielen auftritt, ist häufiger, als bisher angenommen. Betroffen ist jeder hundertste Berufsmusiker, schätzt Altenmüller, etwa viermal so viele Männer wie Frauen. Am stärksten gefährdet sind Perfektionisten, die mit großem Ehrgeiz außerordentlich viel üben; in der Regel klassische Musik, weil es da viel mehr auf Präzision ankommt als beim Jazz oder Pop.

Viele versuchen den Verlust der feinmotorischen Kontrolle so lange wie irgend möglich zu verbergen, um ihren Beruf nicht zu gefährden. Und oft wird das Leiden erst spät erkannt, weil es mit kleinen Unregelmäßigkeiten anfängt, die wieder verschwinden. Die Hand-Dystonie, bei der sich manche Finger krampfhaft krümmen oder strecken, muss am meisten fürchten, wer Pianist oder Gitarrist ist. Es folgen Geige und Bratsche, Querflöte und Klarinette. Vor allem Blechbläser leiden manchmal an der Ansatz-Dystonie, wobei Teile der Gesichtsmuskulatur nicht mehr kontrollierbar sind.

Musikerkrämpfe und andere Dystonien sind neurologische Störungen. Wie sie im Gehirn genau entstehen, ist noch nicht ganz geklärt; nachgewiesen ist aber, dass die sensomotorischen Steuerprogramme gestört sind. Auch die Psyche spielt dabei eine Rolle, denn Fehler in diesen Programmen werden besonders stark unter dem Einfluss von Angst- und Stresshormonen im Handlungsgedächtnis fixiert, berichtet Altenmüller.

Dystonien sind noch nicht auf Dauer heilbar, ausgenommen, wenn sie Folge behandelbarer Nervenverletzungen oder -krankheiten sind. Manche Formen lassen sich aber von Spezialisten bis zu gewissen Grenzen erfolgreich behandeln, vor allem im Frühstadium neu aufgetretener Spielhemmungen. Für Pianisten werden seit einiger Zeit Übungsprogramme erprobt, die manchen Betroffenen schon Besserung brachten. Die falschen Bewegungsmuster ließen sich lockern, die Überaktivität der Muskeln konnte gedämpft werden.

Die Arzneitherapie der Wahl für Hand- und auch Stimmband-Dystonien (nicht jedoch für Ansatz-Dystonien) heißt heute: Botulinumtoxin. Dieses stärkste uns bekannte Gift muss mindestens alle drei Monate in äußerst kleinen, individuell bestimmten Dosen injiziert werden, und zwar sehr genau nur in die krampfenden Muskelfasern, am besten unter elektromyographischer Kontrolle, das heißt, unter Registrierung der Aktionsströme im Muskel. Denn wenn’s daneben geht, verschlimmern sich die Beschwerden.

Die „Giftspritzen“ können bewirken, dass die übermäßige Muskelspannung auf normales Maß herabgesetzt wird. Das gelingt aber selbst Experten nur in gut der Hälfte der Fälle. Ein Geiger eines bekannten deutschen Orchesters berichtete dem Tagesspiegel, er sei dankbar dafür, dass er mit Hilfe dieser symptomatischen Therapie den vorzeitigen Ruhestand noch um drei Jahre hatte hinauszögern können.

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