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Ernst Nolte (1923-2016).

© Thilo Rückeis

Nachruf auf Ernst Nolte: Das Warum der Geschichte

Urheber des Historikerstreits, Faschismustheoretiker, Geschichtsphilosoph: Der Historiker Ernst Nolte ist am Donnerstag im Alter von 93 Jahren gestorben. Ein Nachruf.

„Große öffentliche Aufmerksamkeit kann ein Werk der Geschichtswissenschaft nur dann hervorrufen, wenn es einen Gegenstand von potentiell hervorstechender Wichtigkeit erstmals zum Thema macht“, schrieb Ernst Nolte im Rückblick auf seine fulminante Erstveröffentlichung von 1963, „Der Faschismus in seiner Epoche“. Der Autor, fügte er hinzu, "mag wenige Jahre später vergessen sein, nachdem er sich ,normalen’ Forschungsaufgaben zugewandt hat“.

Ernst Nolte hat beides erlebt, die „große öffentliche Aufmerksamkeit“ und das Vergessenwerden am Schluss seines langen Lebens. Nicht, weil sich die Fragen erledigt hätten, die er aufgeworfen hatte, und nicht einmal, weil der große Streit darum in Vergessenheit geraten wäre, sondern weil der Autor einer damnatio memoriae anheimfiel, die in der Geschichte der deutschen Wissenschaft Ihresgleichen sucht.

Für immer wohl wird sein Name verbunden bleiben mit einer Artikelüberschrift, die nicht einmal von ihm selbst formuliert worden war: „Vergangenheit, die nicht vergehen will“. Mit diesem Zeitungsaufsatz begann Mitte 1986 das, was alsbald der Historikerstreit genannt wurde. Dessen Protagonisten stammten nicht aus dem Innersten der Zunft; weder Nolte war ein studierter Historiker - er entwickelte sich erst dazu mit seinen Arbeiten, die ihm schließlich Habilitation und Lehrstühle einbrachten -, noch Jürgen Habermas, der vom Soziologen zum Sozialphilosophen und wirkmächtigsten Stichwortgeber der westdeutschen Bundesrepublik in den achtziger Jahren avancierte.

Vergleichen und Deuten waren seine Schlüsselbegriffe

Nolte stellte Fragen, die nach dem herrschenden Komment schlichtweg nicht opportun waren, doch unterfütterte er sie mit einer schier überwältigenden Ausschöpfung der historischen und mehr noch geistesgeschichtlichen Quellen. Als er in seinem Faschismus-Buch neben dem Nationalsozialismus erstmals vergleichend den italienischen Faschismus und die französische Action française betrachtete, um zu der Darstellung dessen zu gelangen, was er später in seinem nicht minder bedeutenden Werk „Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945“ auf wiederum gut 600 Seiten ausführte, stand er allein da.

Das hatte es in der Fachdisziplin bislang schlicht nicht gegeben. Als akademischer Außenseiter, der er zu Beginn und erst recht zum Ende seiner Laufbahn war, ließe sich vergleichsweise allenfalls der spät zum Soziologen berufene Niklas Luhmann nennen, bei allem Unterschied von öffentlicher Wahrnehmung und Wirkung. Wie Nolte überschritt Luhmann die Grenzen seiner Disziplin immer schon in philosophischer Absicht.

Vergleichen – das ist der eine Schlüsselbegriff zum Verständnis von Noltes Geschichtsschreibung. Der andere lautet „deuten“. Nolte verglich immerzu, er scheute sich auch nicht, hypothetische Vergleiche anzustellen, dachte er Geschichte doch nicht allein von ihren Fakten, sondern auch von ihren Möglichkeiten her. Das leitet über zur Deutung. Nolte hat sich nie damit begnügt, allein das Rankesche Postulat des „Wie es eigentlich gewesen“ zu erfüllen, sondern fragt nach dem Sinn der Geschichte, dem telos. Das verübelten ihm ausgerechnet seine Gegner, die doch wie Habermas beispielsweise die Westorientierung der alten Bundesrepublik zum Ziel der Geschichte verklärten.

Studium im Krieg, Gymnasiallehrer - und das erste große Buch

Nolte hat sein Berufsleben in Nachkriegsdeutschland zugebracht, doch reichen seine Lebensdaten zurück in jene Epoche, der sein wissenschaftliches Interesse galt. Geboren am 11. Januar 1923 in Witten an der Ruhr, hatte Nolte das Glück, vom Wehrdienst in Hitlers Armee aufgrund einer leichten Behinderung verschont zu bleiben. Stattdessen studierte er Philosophie, Deutsch und Griechisch und begann unmittelbar nach Kriegsende eine zwanzigjährige Berufstätigkeit als Lehrer an altsprachlichen Gymnasien, unterbrochen von einer Freiburger Promotion über Karl Marx. Als er mit dem monumentalen Buch „Der Faschismus in seiner Epoche“ schlagartig ins Rampenlicht der Geschichtswissenschaft trat, brachte ihm seine Leistung die Habilitation ein und 1965 eine Berufung nach Marburg. Acht Jahre später folgte Nolte einem Ruf ans Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, wo er bis zu seiner Emeritierung 1991 lehrte.

Den Faschismus definiert Nolte als Antimarxismus

Da sah er sich bereits heftiger Kritik ausgesetzt, er, der doch die Faschismusforschung auf eine völlig neue Stufe gehoben hatte und etwa 1967 wie selbstverständlich zum Herausgeber des Standardwerks „Theorien über den Faschismus“ berufen worden war. „Begreifen heißt: das Unterschiedene in seinem Zusammenhang erfassen“, hatte er im Vorwort seines Epochen-Buchs geschrieben und dies gleich im ersten Kapitel ausgeführt – hätten seine Gegner es nur je gelesen! Es trägt die Überschrift „Faschismus als Epochencharakter“ und greift weit aus, zum Stalinismus auf der einen und zum liberalen System auf der anderen Seite, verkörpert im amerikanischen Präsidenten Roosevelt.

Doch immer wieder kehrt Nolte zum Ende des Ersten Weltkriegs zurück, zu den aufeinander folgenden Ereignissen der Revolution in Russland und der Umsturzversuche in Deutschland. Zwei davon – der kommunistische Aufstand in Hamburg und Hitlers „Marsch auf die Feldherrnhalle“ – ereigneten sich in Noltes Geburtsjahr.

Es ist diese Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen, die Noltes Denken bestimmt. Den Faschismus definiert er als „Antimarxismus“, als Bewegung mit einer „entgegengesetzten und doch benachbarten Ideologie“. In den gewaltsamen Ereignissen der jungen Weimarer Republik erkennt er das Merkmal der „europäischen Revolution“, „dass zwei heterogene Elemente sich zusammenfanden (...) und das Neue entwickelten, das ihr gemeinsames Werk war“. Antimodern und modern zugleich, so charakterisiert er immer wieder den Nationalsozialismus und dessen notwendiges Scheitern: „So verkörperte das Regime einen Widerstand gegen die moderne Weltentwicklung hin zur Selbstbestimmung von Nationen und Individuen, der zwar auf seine Weise ebenfalls modern, aber ganz und gar vergeblich war“.

Mit dem "kausalen Nexus" verdunkelte Nolte sein eigenes Werk

Es ging ihm um den Ursprung des Nationalsozialismus aus der Moderne. „Das Dritte Reich“, schrieb er Jahre vor dem Historikerstreit, „muss vor allem in den Zusammenhang der durch die Industrielle Revolution ausgelösten Umbrüche, Krisen, Ängste, Diagnosen und Therapien hineingestellt (...) werden; es muss insbesondere auf die Russische Revolution als seine wichtigste Vorbedingung bezogen werden.“ Daraus wie Habermas die „apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung“ herzuleiten, verkennt Noltes Leistung in jenem, was mit Hegel die „Anstrengung des Begriffs“ zu nennen wäre: das Begreifen über das bloße Erschrecken hinaus.

Mit der Erwägung eines „kausalen Nexus“ indessen verdunkelte Nolte sein eigenes Werk. „War nicht der ,Archipel Gulag’ ursprünglicher als Auschwitz?“, heißt es in seinem den Historikerstreit auslösenden Zeitungsartikel von 1986, und missglückter noch: „War nicht der ,Klassenmord’ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ,Rassenmords’ der Nationalsozialisten?“ Da, so schien es, saß Nolte dem logischen Kurzschluss des post hoc ergo propter hoc auf, des „danach, also deswegen“. Da mochte er noch so viele Belege dafür beibringen, dass „die Vernichtungsmaßnahmen der Bolschewiki“ – so schrieb er 1988 im Tagesspiegel – „auf Hitler und andere führende Nationalsozialisten einen tiefen Eindruck gemacht hatten“.

Nolte schrieb auch vom Nationalsozialismus als dem radikal Bösen

Da nützte es auch nichts, wenn Nolte später immer wieder betonte, dass die „Endlösung der Judenfrage“ den „innersten Kern“ von Hitlers Gedanken ausgemacht habe und er sich in dessen Verabsolutierung dem bundesdeutschen Konsens anschloss: „Daher darf und muss Hitlers Nationalsozialismus heute als das radikal Böse gelten.“ Vieles von dem, was Nolte nach 1987 publizierte – eher in den romanischen Ländern, wo er ein aufgeschlossenes Publikum fand –, trägt den Charakter von Präzisierung, Verteidigung und Rücknahme. Doch das mochten Fachdisziplin und gar Öffentlichkeit schon nicht mehr zur Kenntnis nehmen.

Schon gar nicht wurde zur Kenntnis genommen, was Nolte bereits 1963 festgestellt hatte: „Weil der Nationalsozialismus den Juden nicht einmal die Rechte einer nationalen Minderheit gewährte, machte er virtuell auch die deutschen Minderheiten in Osteuropa schutzlos.“ Dieser unabweisliche Zusammenhang zwischen Holocaust und Vertreibung war seinerzeit eine Provokation, die Nolte in manchen Augen sogar zum Marxisten stempelte.

Seine Bücher werden bleiben, und seine Fragestellungen ohnehin

"Warum derartig viel über Nolte geschrieben wurde, ist nicht klar“, bemerkte der Publizist Walter Laqueur einmal herablassend in einem ellenlangen Artikel über den Historiker. Kein Satz könnte falscher sein. Ernst Nolte hat, auch wo er seine Thesen gewissermaßen selbst ins Aus beförderte, nicht nur der Bundesrepublik und ihren Gewissheiten mächtig zugesetzt. Er hat auch eine mit Detailforschung zufriedene Geschichtswissenschaft daran erinnert, dass Geschichte in einem durchaus antiken Sinne geschrieben wird, dass sie eine beständige Herausforderung bleibt für die Späteren, die sich zu ihr verhalten und für sich deuten müssen.

Nur so sind Noltes große Bücher, an ihrer Spitze „Der Faschismus in seiner Epoche“ und „Der europäische Bürgerkrieg“ sowie eine beeindruckende Phalanx von weiteren Publikationen, überhaupt zu verstehen. Um das Verstehen ging es ihm; nicht um das bloße Wer und Was, sondern um das Warum der Geschichte. Ein Geschichtsphilosoph ist er, mit gewissem Unterton, genannt worden; angesichts seines Lebenswerks stellt es eine Auszeichnung dar. Am Donnerstagmorgen ist der Historiker Ernst Nolte in Berlin nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben, er wurde 93 Jahre alt. Seine Bücher werden bleiben, seine Fragestellungen ohnehin.

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