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Neandertaler-Genom: Ein Ausflug in die Steinzeit

Warum es spätestens seit heute vorbei ist mit dem Klischee vom primitiven Neandertaler und vom pfiffigen Jetztmenschen.

Der Neandertaler gilt als geistig minderbemittelter entfernter Verwandter. Eine Dumpfbacke mit vorspringender Mundpartie, dicken Augenbrauenwülsten, breiter Nase und flacher Stirn. Und ein reiner Fleischfresser noch dazu. Spätestens seit heute aber ist es vorbei mit dem Klischee vom primitiven Neandertaler und vom pfiffigen Jetztmenschen, der an die Spitze der evolutionären Leiter geklettert ist und auf seine Ahnen und debilen Vettern herabblickt. Nein, wir sind selbst Neandertaler. Die meisten Menschen tragen einige Prozent Neandertaler-Gene in ihrem Erbgut mit sich herum. Ausgestorbener Neandertaler? Nicht ganz. Willkommen zurück an unserem Tisch, Mensch aus der Eiszeit!

Die neue Erkenntnis verdankt sich dem Neandertaler-Genomprojekt. Mit atemberaubender Geschwindigkeit wühlen sich die Forscher um Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig in das Erbgut des stämmigen Urmenschen hinein. Gerade einmal zehn Jahre ist es her, dass unter großen Mühen und noch größerem Getöse ein erster Erbgutsatz von Homo sapiens entziffert wurde. Und jetzt das: Aus ein paar Knochenkrümeln wurde das völlig zerfallene Genom von Urmenschen zusammengesetzt, die vor 40 000 Jahren lebten!

Jenseits der technischen Bravourleistung lauern die noch viel größeren Sensationen. Der Blick in die Erbanlagen, der nun getan wurde, ist erst der Anfang. Der Vergleich von modernem Mensch, Neandertaler und Schimpansen wird in den nächsten Jahren weitere bahnbrechende Erkenntnisse über Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Menschenaffen-Familie zutage fördern. Und darüber, was uns „menschlich“ macht, zumindest im biologischen Sinn. Das Bild von uns selbst wird schärfere Konturen bekommen, wird sich genauer gegen unsere nächsten Verwandten absetzen. Hier und da aber wird es auch verschwimmen und verschmelzen, werden wir Teil unserer Vergangenheit und die Vergangenheit Teil von uns, wie das Beispiel des aufgesogenen Neandertaler-Erbguts zeigt.

Die Geschichte der Menschwerdung wird neu geschrieben werden, mit den Buchstaben des Genoms. Der Genetiker Pääbo und seine Mitarbeiter haben eine biochemische Zeitmaschine gebaut. Ihre ersten Ausflüge in die Vergangenheit helfen, den Neandertaler zu rehabilitieren. Lange hatte die Wissenschaft große Probleme damit, die fossilen Funde richtig zu deuten und einzuordnen. Legendär ist das Fehlurteil eines Bonner Anatomen, der das merkwürdige Skelett aus dem Neandertal bei Düsseldorf vor 150 Jahren als Überreste eines Kosaken aus den Napoleonischen Kriegen titulierte. Auch der berühmte Berliner Pathologe Rudolf Virchow glaubte nicht an einen Vormenschen, sondern sah lediglich krankhafte Knochen. Homo sapiens duldet eben ungern andere neben sich. Vielleicht wurde das den Menschen aus dem Neandertal einst zum Verhängnis.

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