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Fischerei ist eine Nutzungsform, die weltweit nicht nachhaltig betrieben wird.

© Song Weiwei/XinHua/dpa

Neuer Bericht des Biodiversitätsrats IPBES: 50.000 Arten und eine, die sie übernutzt

Das Auskommen von Milliarden Menschen hängt von wildlebenden Arten ab. Fachleute sehen Handlungsbedarf: die Bestände sind durch Übernutzung bedroht.

Der Weltbiodiversitätsrat IPBES hat am Freitag einen Bericht mit Empfehlungen zur nachhaltigen Nutzung von wildlebenden Arten veröffentlicht. 50.000 wildlebende Arten würden von Menschen genutzt, mehr als 10.000 für die menschliche Ernährung.

Besonders Menschen in ärmeren Weltregionen seien stark davon abhängig, heißt es in dem Bericht, insgesamt rund zwanzig Prozent der Weltbevölkerung. Etwa ein Drittel der Menschen weltweit, rund 2,4 Milliarden, ist auf Brennholz zum Kochen angewiesen.

Wenn aber Wälder für Feuerholz abgeholzt werden, ist die Nutzung nicht nachhaltig. Genau so gilt das für Fischbestände, die überfischt werden oder illegalen Handel, der Wildtierarten bedroht. Die Landbevölkerung in Entwicklungsländern sei am stärksten durch die Folgen der Übernutzung gefährdet. Zusätzlich zu belastenden Faktoren wie Klimawandel, Umweltverschmutzung und der Einschleppung invasiver Arten setzt sie viele Arten von Pflanzen und Tieren unter Druck. „Die sich beschleunigende globale Krise der biologischen Vielfalt, bei der eine Million Pflanzen- und Tierarten vom Aussterben bedroht sind, bedroht diese Beiträge für die Menschen.“, teilte IPBES mit.

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Fünf Nutzungskategorien in der Analyse

„70 Prozent der Armen in der Welt sind direkt von wildlebenden Arten abhängig“, sagt Marla Emery, eine der drei Co-Vorsitzenden der Berichtserstellung. Die regelmäßige Nutzung wild lebender Arten sei jedoch nicht nur im globalen Süden von großer Bedeutung. In Form von Speisefisch, Arzneimitteln, Kosmetika, Dekoration und zur Freizeitgestaltung nutzten auch Menschen in wohlhabenden Ländern wildlebende Arten. „Die Verwendung ist viel verbreiteter, als den meisten Menschen bewusst ist“, sagt Emery.

Die Autorinnen und Autoren des Berichts betrachten vor allem fünf Weisen, auf die Menschen wildlebende Arten nutzen: Fischerei, Sammeln von Pflanzen, Pilzen und Algen, Holzeinschlag, Nutzung von und Jagd auf Land-Wildtiere und „nicht extraktive“ Praktiken wie das Beobachten. Für jede dieser Praktiken werden spezifische Verwendungszwecke wie Nahrung und Futter, Materialien, Medizin, Energie, Erholung, Zeremonien, Lernen und Dekoration untersucht und die Trends der vergangenen 20 Jahre detailliert analysiert. In den meisten Fällen hat die Nutzung wildlebender Arten zugenommen, aber die Nachhaltigkeit der Nutzung variiert.

„Jüngste globale Schätzungen bestätigen, dass etwa 34 Prozent der wildlebenden Fischbestände in den Meeren überfischt sind und 66 Prozent im Rahmen des biologisch nachhaltigen Niveaus befischt werden“, berichtet Jean-Marc Fromentin, einer der drei Co-Vorsitzenden. Dabei gebe es erhebliche lokale und kontextabhängige Unterschiede. „In Ländern mit einem soliden Fischereimanagement haben sich die Bestände vergrößert“, sagt Fromentin. Der Bestand des Rotem Thunfischs im Atlantik habe sich beispielsweise erholt und wird nun nachhaltig befischt.

In Ländern und Regionen ohne Fischereimanagement ist der Zustand der Bestände jedoch oft nur unzureichend bekannt. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass die Bestände unter dem Niveau liegen, das eine nachhaltige Nahrungsmittelproduktion ermöglichen würde. „Viele kleine Fischereien sind nicht oder nur teilweise nachhaltig, vor allem in Afrika bei der Binnen- und Meeresfischerei und in Asien, Lateinamerika und Europa bei der Küstenfischerei“, sagt Fromentin.

„Der aktuelle Bericht erkennt an, dass die Instrumente für und das Wissen um eine nachhaltige Nutzung im Grunde bereits vorliegen, aber nicht stringent genug umgesetzt werden“, sagte Christopher Zimmermann, Leiter des Instituts für Ostseefischerei am Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei in Rostock dem Science Media Center Deutschland. Die abgeleiteten Handlungsempfehlungen an die Politik seien zwar nicht neu, aber sie böten einen „sehr brauchbaren Überblick“.

„Eine nachhaltige Nutzung wilder lebender Ressourcen kann erheblich zur Erreichung der nachhaltigen Entwicklungsziele der UN beitragen“, sagt Zimmermann. Eine Nutzung ist in vielen Fällen sogar besser und hat global gesehen geringere Umweltauswirkungen als die vollständige Einstellung der Nutzung dieser Arten. Zum Erreichen des UN-Nachhaltigkeitsziel 14 „Life below Water“ könnte die nachhaltige Nutzung dem Bericht zufolge einen Beitrag von bis zu 71 Prozent leisten.

Kritik am Bericht

Rainer Froese vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel (GEOMAR) kritisiert an dem Bericht, dass die Hauptaussagen sehr allgemein gehalten sind. „Es gibt keinen Aufruf zu dringend benötigten Aktionen, nur allgemeine Gutfühl-Weisheiten, denen jeder zustimmen kann.“ Teilweise sei er sogar irreführend. „Anders als in der Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger dargestellt nimmt die Anzahl der übernutzten Fischbestände weltweit weiter zu.“ Auch der Beifang von gefährdeten Arten wie zum Beispiel von Haifischen nehme global nicht ab, sondern zu.

„Auch die EU hat ihr gesetzlich festgeschriebenes Ziel der Beendigung jeglicher Überfischung im Jahr 2020 klar verfehlt“, sagt Froese. Im Jahr 2021 seien immer noch 40 bis 50 Prozent der Bestände in Nord-Europa übernutzt worden, für das Mittelmeer wird dieser Anteil auf über 80 Prozent geschätzt. Die meisten europäischen Fischbestände seien durch Überfischung zu stark geschrumpft, um ihre Rolle im Ökosystem erfüllen zu können und um dauerhaft hohe Fangmengen zu unterstützen. „Der Bericht wird daran voraussichtlich nichts ändern. Wir brauchen nicht noch mehr Berichte, wir brauchen endlich politisches Handeln“, sagt Froese.

„Als ob wir einen zweiten Planeten hätten“

Matthias Glaubrecht von der Universität Hamburg fasst den Bericht so zusammen: „Eine weiterwachsende Menschheit plündert nach wie vor den Planeten Erde, als ob wir noch einen zweiten hätten.“ Der Bericht zeige einerseits die Gefahren auf und andererseits wie eine nachhaltige Nutzung aussehen könnte – „und muss, wenn wir überleben wollen“, sagt Glaubrecht. Der Expertenrat betont, dass diese ökonomisch wichtigen Pflanzen und Tiere in ihren natürlichen Lebensräumen erhalten werden müssen.

„Der euphemistisch ‚Landnutzungsänderung‘ genannte Flächenverlust natürlicher Lebensräume ist der größte Treiber des Artenschwundes und Artenverlustes“, sagt Glaubrecht. Gerade in den tropischen und subtropischen Regionen der Erde – nachweislich die reichsten hinsichtlich der Biodiversität –, würden natürliche Lebensräume großflächig vernichtet, etwa durch die Entwaldung in Amazonien, in West- und Zentralafrika und in Südostasien.

Das Überleben von schätzungsweise zwölf Prozent der Baumarten ist durch nicht nachhaltigen Holzeinschlag bedroht, geht aus dem Bericht hervor. Bei anderen Pflanzengruppen wie insbesondere Kakteen, Palmfarne und Orchideen ist nicht nachhaltiges Sammeln eine der Hauptbedrohungen.

Zentral stellt der Bericht die Bedeutung lokaler und indigener Gemeinschaften heraus. Um eine nachhaltige Nutzung von wildlebenden Tier- und Pflanzenarten zu erreichen, müssten diese in Entscheidungen miteinbezogen und ihr Wissen über natürliche Ressourcen genutzt werden. Die ausgesprochenen Empfehlungen könnten für verschiedene politische Entscheidungsprozesse relevant werden – unter anderem für die Post-2020 Biodiversitätsziele, die auf der UN-Biodiversitätskonferenz in Montreal im Dezember beschlossen werden sollen.

„Der Fokus muss es sein, ein verbindliches Ziel zum möglichst umfangreichen Flächenschutz zu formulieren“, sagt Glaubrecht. Er schlägt das 30:30-Ziel vor, für das bis zum Jahr 2030 wenigstens 30 Prozent der Oberfläche der Erde in einem naturnahen Zustand erhalten werden sollen. „Ohne den angestrebten Flächenschutz werden sich die 50.000 beziehungsweise 10.000 direkt durch Jagd und Fischerei genutzten Arten nicht dauerhaft erhalten lassen“, sagt Glaubrecht.

Der IPBES-Sachstandsbericht über die nachhaltige Nutzung wildlebender Arten ist das Ergebnis vierjähriger Arbeit von 85 führenden Expert:innen aus den Natur- und Sozialwissenschaften und von Vertreter:innn, die indigenes und lokales Wissen eingebracht haben, sowie von 200 beitragenden Autoren. Er stützt sich auf die Auswertung von etwa 6200 Quellen: begutachteter Fachveröffentlichungen und nicht begutachteter „grauer“ Fachliteratur. Die Zusammenfassung des Berichts wurde diese Woche von Vertretern der 139 IPBES-Mitgliedsstaaten in Bonn angenommen. Am Montag soll ein weiterer Bericht des IPBES über die „vielfältigen Werte der Natur“ veröffentlicht werden.

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