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Neurobiologie: Wie wir das Denken anderer beurteilen

Mögliche gehirnphysiologische Erklärung für Stereotype, religiöse Konflikte und Rassismus erkannt.

Wie wissen wir, was eine andere Person denkt? Neue Forschung legt nahe, dass wir dieselbe Hirnregion nutzen, auf die wir zugreifen, wenn wir über uns selbst denken - aber nur so lange wir meinen, die Person sei uns ähnlich.

Wenn wir die Ansichten und Gefühle derjenigen einschätzen, die nicht wie wir sind, ist diese Hirnregion nicht beteiligt, wie die neuen Forschungen zeigen. Das könnte bedeuten, dass wir eher auf Stereotype zurückgreifen - was wiederum helfen könnte, die Ursachen sozialer Spannungen wie Rassismus oder Religionsstreitigkeiten zu erklären.

Neurowissenschaftler unter der Leitung von Adrianna Jenkins von der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, machten diese Entdeckung, als sie untersuchten wie das Gehirn die Gedanken anderer abwägt. Wie Jenkins erklärt, ist das Einschätzen, wie andere fühlen, eine wichtige soziale Fertigkeit, da wir nun einmal nicht in die Köpfe anderer schauen können. "Wie überbrücken wir die Lücke zwischen unserem Geist und dem der anderen?", fragt sie.

Die Antwort scheint darin zu liegen, ob wir uns mit der anderen Person identifizieren oder nicht, sagt Jenkins. In anderen Worten: Wie unser Gehirn die Haltung anderer - sei es zu Verkehrsstaus oder impressionistischer Kunst - bewertet, hängt davon ab, wie wir zu dieser Person stehen.

Ähnlicher Geschmack

Jenkins und ihre Kollegen untersuchten eine Hirnregion mit der Bezeichnung ventromedialer präfrontaler Cortex (vmPFC), der am Denken über sich selbst beteiligt ist. Wird man zum Beispiel gefragt, ob man Baseball mag, arbeitet diese Hirnregion, während man darüber nachdenkt, ob man diesen Sport mag oder nicht.

Um herauszufinden, was passiert, wenn die Ansichten anderer abgewogen werden, zeigten die Wissenschaftler College-Studenten aus dem Raum Boston Fotos und Beschreibungen ihnen ähnlicher bzw. nicht ähnlicher Menschen - entweder ein ebenfalls liberaler Student aus dem Nordosten oder ein republikanisch wählender Fundamentalist aus dem Mittelwesten. Dann wurden die Studenten gebeten, eine Reihe von Fragen zu beantworten, wie "Mögen Sie Champignons auf Ihrer Pizza?", und die Antwort der beiden fiktiven Personen zu erraten.

Wie die Wissenschaftler in Proceedings of the National Academy of Sciences (1) berichten, zeigten die Freiwilligen eine Aktivität des vmPFC, wenn sie die Ansichten der ihnen ähnlichen Personen erwogen. Beim Abwägen der Pizza-Vorlieben ihnen nicht ähnlicher Personen, kam diese Hirnregion nicht ins Spiel.

"Je mehr man die andere Person als einem selbst ähnlich wahrnimmt, desto mehr fühlt man ihr nach", erklärt Jenkins. "Möglicherweise sehen wir uns unähnliche Personen als weniger menschlich an", schlägt sie vor.

Sozialer Konflikt

Auch wenn die Fragen in der Studie bewusst unpolitisch waren, werfen die Ergebnisse doch ein Licht auf soziale Konflikte zwischen Gruppen, die einander als sehr unterschiedlich betrachten, sagt Jenkins.

Psychologische Theorien legen nahe, dass eine weitere Art, auf die Gefühle anderer zu schließen, ohne sich auf die eigenen zu beziehen, darin besteht, sich einfach auf soziale Annahmen zu stützen. Dies, so Jenkins, könnte die Ursache religiöser oder rassischer Spannungen sein.

"Es ist ziemlich plausibel, dass wir für Menschen, die uns nicht ähnlich sind, Stereotype benutzen", sagt sie. "Ob das nützlich oder nachteilig ist, ist eine offene Frage."

Jenkins und ihr Team untersuchen diesen Effekt nun an Menschen unterschiedlicher Rassen. Bislang arbeiten sie mit Freiwilligen mit einem "weißen" und einem orientalischen Hintergrund - Gruppen mit einer Geschichte von Konflikten, wie Israelis und Palästinenser, könnten die Ergebnisse verändern, meint sie.

Wie auch immer diese Forschungsarbeiten ausgehen, es besteht Hoffnung, dass sich Empathie mit Menschen, die anders sind als wir, erzeugen lässt. Andere Forschungen von Jenkins Team legen nahe, dass man sich in andere Menschen hineinversetzen kann, wenn man fünf Minuten lang über sie in der ersten Person schreibt - was nahe legt, dass man sich in den Standpunkt anderer hineinversetzen kann, wenn man es wirklich versucht.

(1) Jenkins, A. C., Macrae, C. N. & Mitchell, J. P. Proc. Natl Acad. Sci. USA 105, 4507-4512 (2007).

Dieser Artikel wurde erstmals am 17.3.2008 bei news@nature.com veröffentlicht. doi: 10.1038/news.2008.677. Übersetzung: Sonja Hinte. © 2007, Macmillan Publishers Ltd

Michael Hopkin

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