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In guter Tradition. Plattdeutsch, Friesisch (im Bild eine Trachtengruppe auf Amrum) und Sorbisch sollen vor dem Verschwinden bewahrt werden. Zu neuem Leben lassen sie sich aber wohl kaum erwecken.

© picture-alliance / Paul Mayall

Sprachen: Rettet das Plattdeutsche!

„Tähn bösten und schlapen gahn“: Wie die norddeutschen Länder ihren bedrohten Dialekt retten wollen

„Wi äten Frühstück. Wi bekieken uns Bäuker, wi spälen mit Poppen.“ So beginnt der Tag in einigen Kindertagesstätten in Mecklenburg-Vorpommern. Erst mal gemeinsam frühstücken, dann ran an die Bücher und die Puppen – betreut von einer Niederdeutsch sprechenden Erzieherin. In 20 Modellkitas des Landes haben die Kinder in den vergangenen zwei Jahren so Plattdeutsch gelernt. Jetzt ist daraus eine Publikation entstanden, mit der künftig auch andere Tagesstätten arbeiten können. Die Fibel „Lürlürlütt“ (Klitzeklitzeklein) mit Versen, Liedern und kleinen Erzähltexten soll die Kinder von morgens bis nachmittags durch den Kitaalltag begleiten.

Nicht nur in mecklenburgischen Kindergärten erlebt das Niederdeutsche, das lange als sterbende Sprache galt, eine Renaissance. Überwunden ist sein Ruf als Sprache der einfachen Leute, mit der man es nicht weit bringt. In Hamburg ist es seit einem Jahr reguläres Schulfach, in Schleswig-Holstein wird es vielerorts in den Unterricht einbezogen. Weiter reichende Schulversuche im ganzen niederdeutschen Sprachraum hat im April etwa der „Bundesraat för Nedderdüütsch“ im westfälischen Münster diskutiert. Hintergrund ist die Europäische Charta für Regional- und Minderheitensprachen, nach der sich Deutschland 1999 verpflichtet hat, neben Friesisch oder Sorbisch auch das Niederdeutsche zu fördern und an Schulen zu unterrichten. Universitäten begleiten bestehende Modellversuche mit Studien. Untersucht wird auch, wie es in der Generation der Eltern und Großeltern um das Niederdeutsche bestellt ist: Im kommenden Jahr will das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Großprojekt „Sprachvariationen in Norddeutschland“ seine Ergebnisse vorlegen.

Plattdeutsch vom „Tähn bösten“ bis zum „schlapen gahn“ (Zähneputzen bis schlafen gehen) – die Kitakinder tauchen nach der Methode der „Immersion“ in die Sprache ein. „Die Zukunft ist mehrsprachig“, erklärt Bildungsminister Mathias Brodkorb. Und da liegt in Mecklenburg eben das Niederdeutsche nahe. Und wie anderswo beim frühen Englisch sollen die Kinder durch das spielerische Plattlernen „angeregt werden, über sprachliche Phänomene zu reflektieren und ein analytisches Bewusstsein zu entwickeln“, wie Birte Arendt erklärt, Niederdeutschexpertin am Germanistischen Institut der Universität Greifswald.

Studien zu Sorbisch oder Friesisch im Kindergarten haben gezeigt, dass zweisprachig erzogene Kinder bessere Schulleistungen bringen als einsprachige. Eine Befragung von mecklenburgischen Kindergärtnerinnen ergab zudem, dass die Kinder durch das Plattdeutschprojekt konzentrationsfähiger wurden und generell ein besseres Sprachverständnis entwickelten, berichtet Andreas Bieberstedt von der Universität Rostock. Und die Erzieherinnen wünschen sich, dass das Projekt, das seit 2010 vom Land mit 10 000 Euro und zusätzlich von der „Stiftung Mecklenburg“ gefördert wurde, fortgesetzt wird.

Sprechen die Kinder auch im Alltag Platt?

Hamburg ist schon einen Schritt weiter. Dort ist Niederdeutsch an bislang acht Primarschulen reguläres Schulfach, weitere sollen hinzukommen. In den ersten bis dritten Klassen werden zwei Wochenstunden unterrichtet, später drei. Ausgewählt wurden Orte in Elbnähe, in denen traditionell Plattdeutsch gesprochen wird, wie Fischbek, Ochsenwerder oder Curslack. Beherrschen Eltern und Kinder dort den Dialekt in der Regel nicht mehr, ist ihre Alltagssprache doch niederdeutsch eingefärbt. Doch auch Kinder mit Migrationshintergrund machen mit – dank ihrer Mehrsprachigkeit besonders erfolgreich. Im Unterricht sollen die Schüler „die sprachliche und kulturelle Vielfalt“ in weiten Teilen Norddeutschlands erkunden und lernen, „differenziert“ zu kommunizieren, heißt es im Bildungsplan Niederdeutsch für die Primarschule. Doch das bewusste Plattschnacken eröffnet auch weitere Horizonte: Niederdeutsch ist eine „Brückensprache zum Englischen, Niederländischen und zu den skandinavischen Sprachen“. „Die Kinder werden insgesamt sprachlich flexibler“, sagt Ingrid Schröder, Professorin für Niederdeutsch an der Universität Hamburg, die am Rahmenplan mitgearbeitet hat. Mit Plattkenntnissen könnten sie zudem in neuer Weise Kontakt zu ihren Großeltern oder zu Nachbarn aufnehmen.

Bei den Erstklässlern fängt der Unterricht spielerisch wie in Mecklenburgs Kitas an. Da heißt es vor den Ferien „Ik pack mien Kuffer un nehm en Büx un en Hemd mit“ (Ich packe meinen Koffer und nehme eine Hose und ein Hemd mit). Beim Memory-Spiel gilt „Söök dat poor“ (Suche das Paar). Bunte Arbeitsblätter und Sprachbeispiele finden Plattdeutschlehrer und -lerner auf der Lernplattform Plattolio.de, die von einem Verein von plattbegeisterten und traditionsbewussten Hamburgern getragen wird. Eingeflossen sind Aufgaben, die Niederdeutsch-Studierende aus den Seminaren von Ingrid Schröder entwickelt haben. Für die ersten und zweiten Klassen in Hamburg ist jetzt auch ein erstes Arbeitsbuch herausgekommen. Titelfigur „Fietje“, eine blonde Stoffpuppe in Jeans und Ringelshirt, schippert als „plietsche Deern“ (schlaues Mädchen) durch Hamburg – und führt die Kinder von Themen wie Zahlen und Farben bis zum Einkauf auf dem Wochenmarkt.

Sprechen die Kinder dann auch im Alltag Platt? Das sei nach knapp zwei Jahren Modellversuch noch nicht gesichert, sagt Michael Elmentaler, Leiter der Abteilung Niederdeutsch am Germanistischen Seminar der Universität Kiel. „Jedenfalls ist der Schulunterricht der einzige Weg, um das Plattdeutsche zu stabilisieren, wenn es nicht mehr über die Familie weitergegeben wird.“ Schleswig-Holstein müsse endlich dem Hamburger Beispiel folgen und regulären Unterricht einführen, um die mit der Charta zu den Regionalsprachen eingegangene Verpflichtung zu erfüllen. Einzelne Arbeitsgemeinschaften und die sogenannte „Sprachbegegnung“ im Deutschunterricht trügen nichts dazu bei, „Plattdeutsch als gesprochene Sprache zu retten“.

Wie weit die Sprache in Norddeutschland überhaupt noch verbreitet ist, untersuchen Ingrid Schröder und Michael Elmentaler gemeinsam mit Kollegen von sechs Unis, darunter Münster und Frankfurt (Oder) im Projekt „Sprachvariationen in Norddeutschland“. 2013 soll ein zweibändiger Sprachatlas erscheinen, in dem dokumentiert wird, wo niederdeutsche Merkmale noch stabil sind und wo sich im Hochdeutschen eindeutige niederdeutsche Einflüsse nachweisen lassen.

Ein Beispiel sind die Varianten des Wortes Kaffee. Wer Káffe sagt, also die erste Silbe betont und das Wort mit einem Schwa-Laut (Murmelvokal) enden lässt, habe eine Eigenart der niederdeutschen Basisdialekte auch in der hochdeutschen Regionalsprache bewahrt, erklären die Forscher. Diese Variante sei am häufigsten in Dithmarschen, Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Mittelpommern sowie in Nord- und Südbrandenburg zu beobachten. Gesammelt haben die Niederdeutsch-Spezialisten solche Daten bei Interviews und bei der Aufzeichnung von Tischgesprächen mit „Gewährspersonen“. In 18 untersuchten Dialektregionen wählten die Forscher je zwei Orte, in denen sie mit jeweils zwei Frauen mittleren Alters arbeiteten, die noch Platt sprechen beziehungsweise als Hochdeutschsprecherinnen gelten.

Schon vor dem Abschluss des Niederdeutsch-Projekts steht fest: In weiten Landstrichen, vor allem in Brandenburg und in Teilen Westfalens, ist das Niederdeutsche weitestgehend verdrängt. Man spricht Hochdeutsch, das durch andere regionale Dialekte oder die aus vielen Einflüssen zusammengesetzte Metrolekte der Städte eingefärbt ist. Die einst große regionale Vielfalt des Niederdeutschen mit zahllosen Ortsdialekten könne auch nicht durch den besten Schulunterricht erhalten werden, sagt Michael Elmentaler. „Schulunterricht bedeutet Normierung.“ In Hamburg aber beobachtet Ingrid Schröder: „Niederdeutsch ist heute etwas, das Identität schafft und zur Großstadt gehört.“

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