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Lichterinstallation an der Newa mit historischen Skultpturen, Fassaden und einem alten Segelschiff.

© Maltsev/dpa

Ernennung Peters I. zum Kaiser von Russland: Russlands Signal an Europa

Zwischen Annäherung und Expansionsdrang: Vor 300 Jahren nahm Peter der Große den Kaisertitel an und forderte einen Platz unter den Großmächten. Ein Gastbeitrag.

Auf der Newa im Zentrum St. Petersburgs lagen knapp 150 Galeeren. Zahlreiche Regimenter und ziviles Publikum tummelten sich an den Ufern und bunte Laternen illuminierten die Straßen der jungen Hauptstadt. Nach Festakt, Festmahl und Tanz bildete schließlich ein gewaltiges Feuerwerk den imposanten Abschluss der Festivitäten am 2. November 1721 (nach dem damaligen russischen Kalender war es der 22. Oktober). Anlass des opulenten Festes war der Frieden von Nystad, der den Großen Nordischen Krieg gegen Schweden besiegelte.

[Der Autor dieses Gastbeitrags, Stefan B. Kirmse, ist Senior Research Fellow am Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin.]

Friedrich Wilhelm von Bergholz, im Dienste des Herzogs von Holstein, sparte in seinem Tagebuch nicht mit Pathos: „Das Feuer, welches von den Wällen der Festung und Admiralität und auf dem Newa-Fluss von den Galeeren gemacht wurde, war so groß, dass alles in Feuer und Flammen zu stehen schien und es aussah, als wenn Himmel und Erde vergehen wollten.“ Als Höhepunkt des Feuerwerks war ein eigens dafür konstruierter, hölzerner Janustempel angezündet worden, dessen Tore sich wie bei einem Sieg im römischen Kaiserreich langsam schlossen.

Opulenz und römische Symbolik waren kein Zufall. Denn um den Friedensschluss ging es bei den Feierlichkeiten nur bedingt. Der Tag war eine Zäsur in der Geschichte Russlands und ein Neuanfang zugleich. An jenem Herbsttag wurde nach der Verlesung des Friedens Peter I. (1682-1725) zum Imperator totius Russiae, zum „Kaiser von ganz Russland“, ausgerufen. Das frühneuzeitliche Moskauer Reich, dessen Herrscher sich seit 1547 formell „Zaren“ nannten, wurde zum „Kaiserreich Russland“.

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Kaiserwürde und die Bezeichnung Imperium waren mehr als symbolisch. Das bis dahin eher in sich gekehrte Zarenreich forderte seinen Platz unter den Großmächten ein. Es war sogar ein Platz in der ersten Reihe, da die Kaiserkrone samt Erbe des Imperium Romanum in der christlichen Tradition bislang dem Römisch-Deutschen Kaiser vorbehalten war.

In Europa wurde Russlands Herrscher König genannt

Der Schritt kam für den Rest Europas jedoch nicht überraschend. Diplomaten rechneten damit, dass der Sieg gegen Schweden und die Einnahme des nördlichen Baltikums die Bedeutung Russlands neu definieren würde. Dennoch werfen der Kaisertitel und seine Inszenierung Fragen auf. Immerhin hatte sich auch das frühneuzeitliche Moskau als „Drittes Rom“ verstanden. Der Titel „Zar“ selbst war vom römischen „Caesar“ abgeleitet. Was war 1721 also anders?

Aus der offiziellen Chronik der Ereignisse, aus Reden, Tagebüchern und Sitzungsprotokollen der Heiligen Synode wissen wir, dass Synode und Senat, die obersten geistlichen und weltlichen Organe des Reiches, erst zwei Tage vor dem Fest an den Monarchen mit der Idee des Kaisertitels Imperator herangetreten waren. Der Zar lehnte zunächst ab.

Eine Seite aus einem historischen russischen Schulbuch.
Nach anfänglichem Zögern. Eine Abbildung in einem frühen russischen Geschichtsbuch von 1836 zeigt den historischen Moment, in dem Peter I. 1721 die Kaiserwürde entgegennahm (Zeichnung von Boris Tschorikow).

© Abbildung: Digitale Staatliche Russische Kinderbibliothek

Dem russischen Denken nach war das folgerichtig. Seit der Zarenkrönung 1547 war die Anlehnung an das lateinische Caesar in Russland stets betont worden. In anderen Teilen Europas war diese Titulatur allerdings nie systematisch übernommen worden. Manche spotteten gar darüber, und die Anrede der Zaren als Großfürst oder König blieb Teil der europäischen Diplomatie.

Nicht zuletzt dank der militärischen Erfolge Peters I. stieg jedoch das Bedürfnis in St. Petersburg, wachsendes Prestige und das sich wandelnde Selbstbild auch sprachlich zu fixieren. 1709 wurde der Kopf des Außenamtes in „Kanzler“ (lat. cancellarius) umbenannt, 1711 folgte die Einführung der Bezeichnung „Senat“ – ebenfalls nach römischem Vorbild. Wiederholt hob Peter seine Parallelen zu Konstantin dem Großen als Stadtgründer und Schutzherr des Christentums hervor, dessen Symbolik er zum Teil übernahm.

Auf eine Krönung zum Kaiser verzichtete man

Ein wiederentdecktes Schreiben des Römisch-Deutschen Kaisers Maximilian I. von 1514, in dem der Moskauer Großfürst als „Kauzer“ (Kaiser) tituliert wurde, ließ Peter 1718 vervielfältigen. 1721 nutzten seine Vertrauten dann die Friedensfeier als Anlass, den Prozess der Anerkennung endlich abzuschließen.

Und doch war die Festzeremonie ein Kompromiss. Was als Neuerung inszeniert wurde, sollte auch dafür stehen, dass alles beim Alten blieb. Noch während des eigentlichen Festaktes stellte der Kanzler klar: „Der Kaisertitel war Euren Vorfahren schon von Maximilian I. gegeben worden (…). Wir erlauben uns daher, Euch dasjenige, was ohnehin schon das Eure ist und von Rechtswegen Euch zukommt, anzubieten.“

Auf eine Krönung verzichtete man, um die vorherige Zarenkrönung nicht zu entwerten. Der Zarentitel selbst wurde nicht abgeschafft. Wieso auch? Nach russischem Verständnis war er gleichbedeutend mit „Kaiser“, auch wenn der Westen das nicht verstehen wollte.

[Lesen Sie auch Stefan B. Kirmses Gastbeitrag über Antisemitismus im Zarenreich: Von der Anfeindung zum Pogrom]

Gleichwohl waren die Folgen der Kaiserwürde gewaltig. In Ost und West wird die Existenz des Kaiserreichs Russland bis heute mit 1721 bis 1917 datiert. Diverse Änderungen traten sofort in Kraft: Für den Schriftverkehr wurde der Titel „Kaiser von ganz Russland“ umgehend Pflicht. Auch in Zeremonien, Insignien und sonstiger staatlicher Symbolik wurde die neue Titulatur direkt umgesetzt. Zugleich kam die Kaiserwürde aber dem Zugeständnis gleich, dass es vorher nur Könige gegeben hatte. Das war ein hoher Preis für einen Titel. Warum wollte man ihn dennoch bezahlen?

Russland sollte "für ein paar Jahrhunderte" das Zentrum der Welt sein

John Perry, englischer Offizier in Diensten Peters I., drückte die Öffnung Russlands wie folgt aus: „Der Zar gab seinen Herrschaften zu verstehen, dass Russland nicht die ganze Welt war.“ Und so entstand reger diplomatischer, kommerzieller und intellektueller Austausch, vor allem zwischen Russland und Westeuropa, aber auch mit dem Süden und Osten.

Die Meinung der westeuropäischen Mächte – allem voran der Römisch-Deutschen Kaiser, der Königreiche Frankreich und England wie auch der Republiken der Vereinigten Niederlande und Venedig – war in St. Petersburg eminent wichtig. Die Protokolle der Synode zeigen, dass man mögliche Reaktionen sorgsam debattierte, aber übereinkam, dass Europa die Ausrufung des Kaiserreichs letztlich akzeptieren würde.

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Die Annahme des Titels war auch eine Ansage für die Zukunft. 1714 bereits hatte Friedrich Christian Weber, Gesandter des Kurfürstentums Hannover, einer Rede des Zaren beigewohnt, in der dieser das kulturelle Zentrum der Welt als veränderlich beschrieb: Die „griechischen Künste, Wissenschaften und Lebensart“ hätten sich erst nach Italien, dann nach ganz Europa verstreut, schließlich auch nach Deutschland und Polen. „Nunmehr wird die Reihe an uns kommen …“ Russland werde „für ein paar Jahrhunderte“ das Zentrum der zivilisierten Welt sein.

Peter der Große nahm schon 1722 Persien die Provinz Aserbaidschan ab

Das legitimierte auch eine weitere Expansion. Schon vor 1721 forcierte der Zar die Öffnung nicht nur gen Westen, sondern auch gen Süden. Kurz nach seiner Ausrufung zum Kaiser instruierte er seinen Konsul in Persien, den Schah auf die baldige Ankunft des russischen Heeres hinzuweisen und klarzumachen, dass er dort territoriale Ansprüche durchsetzen werde. Wieso sollten nur die anderen Großmächte Kolonialreiche aufbauen und den Welthandel dominieren?

Es blieb keine leere Drohung. Persönlich führte der Zar im Sommer 1722 seine Truppen über das Kaspische Meer, nahm Persien die Provinz Aserbaidschan ab und besetzte die kaspische Südküste. Erneut orientierte er sich dabei an anderen historischen wie zeitgenössischen Vorbildern. Mit gut 100.000 Mann zu Lande und auf dem Wasser, knapp 50 Segelschiffen und über 400 Galeeren war sein Feldzug eine imperiale Machtdemonstration. Zweifellos sollte sie die Botschaft nach Wien, Amsterdam und Konstantinopel senden, dass das Kaiserreich seinen Platz in der ersten Reihe auch wahrnehmen werde.

Zugleich zeigen Anweisungen an die russischen Konsuln in Persien, dass der Kaiser gar eine Verlagerung des globalen Asienhandels anstrebte – mit Persien, dem Kaspischen Meer und der Wolga als Hauptverkehrsader nach Europa. Es mag eine Tollheit gewesen sein (die Peters Nachfolgerinnen und Nachfolger nicht umsetzen konnten). Aber sie zeigte zugleich das neue Selbstverständnis und die anhaltende Bedeutung antiker und europäischer Vorbilder im neuen Kaiserreich.

Dass Peter I. in konservativen russischen Kreisen heute teilweise scharf kritisiert wird, da er Russland nach Westen orientiert und so angeblich seiner eigenen Identität und Seele beraubt habe, macht diese Frage auch 300 Jahre nach Ausrufung des Kaiserreichs hochaktuell.

Stefan B. Kirmse

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