zum Hauptinhalt
Transferleistung. Idotea bringt zusammen, was zusammengehört.

© W. Thomas, CNRS

Krebschen und Karpogone statt Bienchen und Blümchen: Sex zu dritt ist von vorgestern

Das Leben kommt aus dem Meer. Und - gerade entdeckt - eine ziemlich verbreitete, bisher den Landbewohnern vorbehalten geglaubte Form des Liebens auch.

Sexualität ist nicht nur beim Menschen, sondern auch in der Natur oft mehr und komplexer als nur das Zusammensein und der Austausch zweier Partner. Das ist lange bekannt. Offenbar aber, so hat jetzt ein Team von Fachleuten für Meeresbiologie herausgefunden, ist etwa der Geschlechtsverkehr mit drei Beteiligten sogar noch viel älter als man bislang annahm.

Manche brauchen Hilfe

Lange galt diese Variante – Übertragung männlicher Geschlechtszellen zum weiblichen Individuum mit Hilfe eines dritten Partners, der meist ein Insekt ist – als späte Erfindung in der Evolution des Lebens an Land. Auch als 2016 eine Studie erschien, die zeigte, dass die im tropischen und subtropischen Atlantik heimische Seegrasart Thalassia testudinum von winzigen Meerestieren bestäubt werden kann, änderte sich an dieser Sicht nichts. Denn Thalassias Vorfahren entwickelten sich an Land und besiedelten erst später wieder das Meer.

Doch jener Befund ließ der chilenischen Meeresbiologin Myriam Valero keine Ruhe. Die Direktorin an der Forschungsstation in Roscoff in Frankreich fragte sich, ob Ähnliches nicht auch bei den evolutionär viel älteren Organismen, für die sie selbst Expertin ist, passieren könnte: Die weltweit verbreitete Rotalgen-Art Gracilaria gracilis kann sich asexuell etwa über Sporen, aber auch geschlechtlich fortpflanzen. Letzteres, so die Annahme bisher, passiert passiv, indem die männlichen, Spermatien genannten Geschlechtszellen sich von den Algen lösen und am weiblichen, Karpogon genannten Organ hängenbleiben.

Im Rotalgenbezirk

Genau das passiert auch. Aber die unterseeische „Bestäubung“ ist offenbar – zumindest im ruhigen Wasser – um ein Vielfaches effektiver, wenn die Algen von kleinen Krebstieren der Art Idotea baltica besiedelt sind. In Versuchstanks mit zwei etwa 15 Zentimeter von einander entfernten Rotalgen gab es 20mal mehr Befruchtungen, wenn dort 20 dieser Tiere schwammen. Dem an der Studie beteiligten Mikrokopie-Spezialisten Sebastien Colin vom Max-Planck-Institut für Biologie in Tübingen gelangen auch Aufnahmen, die zeigen, dass Idotea-Krebse Spermatien mit sich herumschleppen.

Rotalgen gibt es etwa seit 800 Millionen Jahren, pflanzliches und tierischen Leben an Land wohl seit weniger als 500. Es ist also möglich, dass etwas, was der Bestäubung von Landpflanzen durch Bienen, Motten oder Kolibris vergleichbar ist, sich schon lange bevor das Land jenseits von Mikroorganismen überhaupt besiedelt wurde, im Meer entwickelt hat.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Während etwa Bienen mit Pollen und Nektar belohnt werden, ist noch unklar, was die Sexhelfer der Rotalgen für ihre Dienstleistung bekommen. In einem Begleitartikel in „Science“, wo die Forschungsarbeit selbst auch erschienen ist, wird spekuliert, dass ihnen dort schlicht Schutz vor Fressfeinden geboten wird. Selbst effektiv etwas zu fressen finden sie dort wahrscheinlich auch, namentlich verschiedene Arten einzelliger Algen, die auf den großen Rotalgen wachsen.

Stille Wasser

Die Frage, wie wichtig diese Art der Fortpflanzung für die Rotalgen unter natürlichen Bedingungen ist, ist unbeantwortet. Gleiches gilt für die, ob und welche anderen Gruppen von Meerespflanzen – oder gar Tieren – diese Option der „Fremdbestäubung“ auch noch nutzen.

In stark bewegtem Wasser sollten die Geschlechtszellen eigentlich auch ohne tierische Hilfe die Vaterpflanze weit genug verlassen können, um ein Karpogon zu erreichen. Andererseits werden viele dann ins offene Wasser gespült werden und gleichsam verloren gehen.

So könnte die effektive Übertragung durch Idotea und andere auch dazu geführt haben, dass die Algen weniger Spermatien produzieren müssen und somit Energie sparen können. Es wäre ein ganz ähnlicher evolutionär Schritt wie der von der Wind- zur Fremdbestäubung an Land.

Auch, welche praktische Bedeutung der Fund vielleicht noch haben kann, ist derzeit unklar. Die Rotalgenart jedenfalls gilt wegen ihrer unter anderem in Spezialchemie und Medizin nutzbaren Inhaltsstoffe als eine der vielversprechenden Meeresressourcen der Zukunft.

Hinweis: Im Text kam der Tippfehler (bzw. Autocorrect-Fehler) vor, Gracilaria könne sich "geschichtlich" fortpflanzen. Bis zum Beweis des Gegenteils ist dies zwar nicht auszuschließen, wir haben aber trotzdem wieder zu "geschlechtlich" geändert.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false