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Gut gefördert. Pädagogen sind dafür, Schülerinnen und Schüler besser innerhalb ihrer Lerngruppe zu unterstützen. In vielen Bundesländern würden aber noch nicht ausreichend Angebote gemacht. Schulstudien zeigen, dass Sitzenbleiber bisher nach zwei Jahren oft wieder schwächeln.

© Doris Spiekermann-Klaas

Streit um Ehrenrunde in der Schule: Statt sitzenbleiben lieber aufstehen

Niedersachsen will das Sitzenbleiben in der Schule abschaffen. Konservative Politiker sind entsetzt. Pädagogen plädieren dagegen für individuelle Hilfe für leistungsschwache Schüler. Die Rezepte dafür liegen bereits auf dem Tisch.

In Niedersachsen sollen Schülerinnen und Schüler mittelfristig nicht mehr sitzenbleiben. Dieses Ziel der neuen rot-grünen Regierung löst jetzt eine kontroverse Debatte aus, wie mit leistungsschwachen Schülern umgegangen werden soll. Während Erziehungswissenschaftler und andere sozialdemokratische geführte Länder den Plan unterstützen, kritisieren ihn zumal Konservative scharf.

So sprach der bayrische Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) von „blankem Unsinn“ und „pädagogischem Populismus“: „Man entkleidet sich ohne Not eines pädagogischen Instruments, das den Schülern die Möglichkeit bietet, Versäumtes nachzuarbeiten“, sagte Spaenle. Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, erklärte, Schulabschlüsse würden zu ungedeckten Schecks: „Da kann man gleich eine Abitur-Vollkasko-Garantie anbieten.“ Ähnlich denken auch Patrick Meinhardt, bildungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, und Jürgen Böhm, der Vorsitzende des Verbandes Deutscher Realschullehrer (VDR).

Der Präsident der Kultusministerkonferenz, Sachsen-Anhalts Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD), begrüßte die Reform dagegen. Die Wissenschaft sei zum größten Teil der Auffassung, dass das Sitzenbleiben nichts bringe, sagte Dorgerloh: „Wir brauchen mehr individuelle Förderung“. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) bezeichnete Sitzenbleiben als „längst nicht mehr zeitgemäß“.

Bundesweit wiederholen derzeit pro Jahr etwa zwei Prozent aller Schülerinnen und Schüler eine Klasse. Das klingt zunächst wenig. Doch blickt man auf die Zahlen im Laufe der Schullaufbahn, sieht das Bild anders aus. So ergab die Pisa-Studie von 2009, dass unter allen Fünfzehnjährigen in Deutschland jeder fünfte mindestens einmal sitzengeblieben ist, der internationale Schnitt lag bei 13 Prozent. In den deutschen Ländern ist die Quote unterschiedlich hoch, in Bayern etwa doppelt so hoch wie in Baden-Württemberg. Bundesweit ist sie aber rückläufig. Noch im Schuljahr 2007/2008 blieben 225000 Schüler sitzen, im vergangenen Schuljahr noch 160 000 Schüler, was die Länder zusammen 800 Millionen Euro kostet.

Unter Politikern, Lehrern und Eltern mag der Sinn des Sitzenbleibens umstritten sein. Doch die meisten Erziehungswissenschaftler denken so wie Hans Brügelmann: „Sitzenbleiben ist ein nicht-effektives Instrument mit negativen Nebenwirkungen“, sagt der emeritierter Professor für Grundschulpädagogik der Universität Siegen, der sich beim Grundschulverband engagiert. Schon allein, weil die meisten Schüler nur in Teilbereichen Schwächen zeigten, sei es „Unfug“, sie den gesamten Stoff wiederholen zu lassen. Viele Schüler, die sitzenbleiben, würden auch danach „weiter durchrutschen“. Oft seien die Arbeitshaltung oder die eigene Organisationsunfähigkeit Ursachen schwacher Leistungen, was anders als durchs Sitzenbleiben angegangen werden müsse. Auch Studien wie Pisa zeigen, dass die Sitzenbleiber nach zwei Jahren oft wieder schwächeln und dass Länder wie Finnland oder Südkorea, in denen es statt des Sitzenbleibens individuelle Fördermaßnahmen gibt, einen geringeren Prozentsatz schwacher Schüler vorweisen können. Die OECD spricht sich dann auch gegen das Sitzenbleiben aus.

Statt einer Selektion am Ende eines Schuljahrs plädiert Brügelmann darum für eine „Förderung innerhalb der Lerngruppe“, etwa durch individuelle Betreuung während des normalen Unterrichts, durch zusätzliche Förderstunden am Nachmittag oder durch betreute Kurse in den Ferien. „Den Anspruch individueller Förderung erfüllen aber viele Länder noch nicht gut genug“, sagt Brügelmann. Die Finanzminister seien gefragt, das nicht zum „Sparmodell“ zu machen.

Die Niedersachsen sind deswegen nicht die ersten, die auf das Sitzenbleiben verzichten wollen. In Berlin etwa können nur noch Gymnasiasten sitzenbleiben, Grundschüler nur in Ausnahmefällen. In Bremen ist Sitzenbleiben in den Klassen 1 bis 8 abgeschafft, in Hamburg sogar bis zur 9. Klasse. In Hamburg soll das bis 2017 für alle Klassen gelten. Schüler, die die Note Fünf in einem Kernfach haben, müssen dort an den Schulen verpflichtend Nachhilfe nehmen. Das rot-grün regierte Rheinland-Pfalz will in einem Modellversuch den Verzicht aufs Sitzenbleiben testen. In der kürzlich von Grün-Rot in Baden-Württemberg eingeführten Gemeinschaftsschule können die Kinder schon heute nicht mehr durchfallen. Das wolle er Schritt für Schritt auch an den anderen Schulen durchsetzen, kündigte Kultusminister Andreas Stoch (SPD) jetzt an.

Die designierte niedersächsische Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) verweist auf die guten Erfahrungen, die man mit dem Verzicht aufs Durchfallen an integrierten Gesamtschulen gemacht habe: „Wir haben an den Schulen die niedrigste Schulabbrecher-Quote überhaupt“. (mit dpa)

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