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Am Rand dieses durch "Clearing" durchsichtig gemachten Mausknochens finden sich Hunderte feinster Kapillaren. Dabei handelt es sich um die neu entdeckten Transkortikalgefäße.

© Anja Hasenberg/Uni Duisburg-Essen

Tausende Löcher im Skelett: Forscher entdecken neues Blutgefäßsystem im Knochen

Deutsche Wissenschaftler haben ein bisher unbekanntes System feinster Kanälchen gefunden. Es könnte die Sicht auf unsere Knochen revolutionieren.

Generationen von Forschern haben sich an ihnen abgearbeitet. Sie haben jeden Vorsprung und jede Unebenheit minutiös untersucht und kartiert. Was, wenn nicht die Knochen, das Grundgerüst unseres Körpers, waren bei all dem kurzlebigen medizinischen Wissen noch eine Konstante? Jetzt aber stellt sich heraus: Unser Skelett könnte aus mehr bestehen, als wir bisher geglaubt haben. Aus viel mehr.

In den Schienbeinknochen von Mäusen haben Wissenschaftler aus Deutschland ein neues Blutgefäßsystem entdeckt. In einem Netzwerk feiner Kanälchen durchziehen die Kapillaren die Knochenrinde und verbinden so das Knochenmark im Inneren mit dem Blutkreislauf. Und dieses System ist offenbar ungeheuer wichtig: Durch die bislang unentdeckten Kanälchen fließt ein Großteil des Blutes, das den Knochen passiert. Das schreiben der Immunologe Matthias Gunzer von der Universität Duisburg-Essen und seine Kollegen im Fachmagazin "Nature Metabolism".

Auf dem Schlachtfeld wirken Medikamente in Sekunden

Lange Röhrenknochen wie Schienbein- oder Oberarmknochen bestehen aus mehreren Schichten. Ganz außen liegt die Knochenhaut, das Periost (Os = lat. Knochen). Nach innen schließen sich die Knochenrinde und schließlich die Markhöhle an – ein Schwamm feinster Knochenbälkchen, in dessen mikroskopisch kleinen Hohlräumen sich das Knochenmark befindet. Dort werden beim Menschen ab dem vierten Lebensmonat fast alle Blutzellen gebildet. Entsprechend gut ist es auch durchblutet. Bisher gingen Wissenschaftler davon aus, dass nur ein paar wenige Arterien das Knochenmark mit Nährstoffen versorgen und ebenso wenige Venen die Blutzellen in den Körperkreislauf schwemmen. Dazu müssen die Gefäße die harte Außenschicht des Knochens durchdringen. Die meisten dieser Blutgefäße befinden sich an den Knochenenden, ein paar auch in der Mitte, am Knochenschaft.

"Es gab Hinweise aus früheren Untersuchungen, dass es außer diesen wenigen Blutgefäßen noch ein weiteres System geben muss, das die Röhrenknochen durchzieht", sagt Matthias Gunzer, Hauptautor der Studie, dem Tagesspiegel.

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Diese Theorie stammte nicht zuletzt auch aus Beobachtungen auf dem Schlachtfeld. Verwundeten Soldaten, deren Venen nicht gut genug zu sehen sind, als dass Ärzte ihnen darüber eine Injektion verabreichen könnten, bekommen diese direkt in den Knochen gespritzt. Die benötigte Flüssigkeit oder die Medikamente werden mit einer Stahlkanüle meist ins Schienbein injiziert. Mittlerweile ist diese intraossäre Injektion gängige Praxis nicht nur in Kriegen, sondern auch bei Notarzteinsätzen. Die Wirkung der Medikamente setzt oftmals schon nach Sekunden ein. Es musste also einen Weg geben, wie die Stoffe schnell aus dem Knochenmark in den Blutkreislauf gelangen, der sozusagen als Abkürzung durch die Knochenhülle fungiert. Bisher ließen sich solche Strukturen allerdings mit keiner Technik nachweisen. Gunzer und seine Kollegen haben nun ein geeignetes Verfahren gefunden: Sie machten die Knochen einfach durchsichtig.

Die Idee: die Knochen einfach durchsichtig machen

Die Methode heißt Clearing. Durch das Einlegen in eine Lösung werden die fetthaltigen Zellmembranen gleichsam weggewaschen, der Blick auf darunter liegende Strukturen ist frei. Ganze Organe lassen sich so untersuchen, "aber der Knochen war wegen seiner harten Außenschicht eine besonders schwierige Aufgabe", sagt Gunzer. Entscheidend war die Zugabe einer farblosen Flüssigkeit namens Zimtsäureethylester – eine Verbindung, die eigentlich als Duftstoff für Weihnachtsgebäck zugelassen ist. Eingelegt in solch eine Lösung, wurde die knöcherne Außenhaut der Mäuseknochen innerhalb eines Tages gläsern und gab den Blick auf das Innere des Knochens frei. Mit einem weiteren neuen Verfahren, der Röntgenmikroskopie, gelang es den Forschern, am Computer ein dreidimensionales Abbild des Mäuse-Gefäßsystems zu erstellen.

Erstaunlich, dass heute noch so fundamentale Entdeckungen an so gut erforschten Körpern, wie denen von Mäusen und Menschen, möglich sind.

schreibt NutzerIn gophi

Neben den schon bekannten Versorgungsgefäßen fanden die Wissenschaftler winzige Kapillaren, die senkrecht die Knochenhülle durchziehen. Sie verbinden das Knochenmark direkt mit den Gefäßen an der Außenseite des Knochens. Sie fanden bis zu Tausend dieser Kanälchen – in einem einzigen Knochen. "Und da sprechen wir von einem Mausknochen, der ungefähr so groß ist wie ein Streichholz", sagt Gunzer. Da die feinen Kanälchen die Knochenhülle passieren, also die Kortikalis, nannten Gunzer und seine Kollegen sie kurzerhand transkortikale Gefäße (TCVs).

Durch die TCVs fließt ein Großteil des Blutes

Mit einem Mikroskop maßen die Forscher den Blutfluss durch einzelne TCVs und rechneten das Ergebnis hoch. "Durch die Gefäße fließen bei den Mäusen etwa 80 Prozent des arteriellen und fast 60 Prozent des venösen Blutes", sagt Gunzer. Offenbar haben die Kanäle bei der Maus also eine zentrale Funktion. Eine davon könnte sein, im Knochenmark gebildete Entzündungszellen schnell an Ort und Stelle zu bringen. Das beobachteten die Wissenschaftler an Mäusen, die sie künstlich an rheumatoider Arthritis erkranken ließen, einer bei Menschen häufigen Gelenkentzündung. Innerhalb weniger Wochen nahm die Anzahl der TCVs massiv zu. Es gelang den Forschern sogar, Immunzellen bei ihrer Wanderung durch die Kapillaren zu beobachten.

Mittels Lichtblattmikroskopie, kombiniert mit einer grünen Blutgefäßfärbung, konnten die Forscher die Blutgefäße im Röhrenknochen in 3D untersuchen. Die kleinen Gefäße in der Außenschicht des Knochens im linken Bild sind die neu gefundenen TCVs.
Mittels Lichtblattmikroskopie, kombiniert mit einer grünen Blutgefäßfärbung, konnten die Forscher die Blutgefäße im Röhrenknochen in 3D untersuchen. Die kleinen Gefäße in der Außenschicht des Knochens im linken Bild sind die neu gefundenen TCVs.

© Anja Hasenberg/Uni Duisburg-Essen

Damit sie durch den kompakten Knochen wachsen können, ist für jedes der Gefäße ist ein winziger Kanal durch die harte Außenhaut des Knochens erforderlich: Diese Kanäle haben nach Gunzers Messungen einen Durchmesser von etwa 10 bis 15 Mikrometer und sind etwas mehr als 100 Mikrometer lang. Gebohrt werden sie von Osteoklasten – Knochen abbauenden Zellen, die auch bei der Osteoporose eine Rolle spielen.

Die große Frage ist, ob es dieses System von Gefäßen auch beim Menschen gibt. "Menschliche Knochen sind wesentlich komplizierter aufgebaut als die von Mäusen", sagt Gunzer. Anders als die Nager besitzt der Mensch in der recht breiten Knochenrinde bereits ein System kleinster senk- und waagerechter Kanälchen. Aber keines davon durchzieht die Rinde komplett – wie die TCVs. Für deren Vorhandensein beim Menschen wiederum spricht einiges.

Der Professor untersuchte das eigene Schienbein

Nach Verletzungen langer Röhrenknochen, etwa bei einem Schienbeinbruch, beobachten Chirurgen immer wieder kleinste fleckförmige Blutungen unterhalb der Knochenhaut. "Sie könnten Austrittsstellen der TCVs sein", sagt Gunzer. Da das allein natürlich nicht als Beweis taugt, legte der Professor selbst sein Schienbein stundenlang unter ein 7-Tesla-MRT, das Aufnahmen vom Blutfluss in seinem Knochen machte. Auch hier fanden sich Hinweise auf kleinste Öffnungen in der Knochenrinde. Der ultimative Beweis aber wäre natürlich, wenn man die Kanäle selbst darstellen könnte. Da menschliche Knochen aber zu dick sind, um sie mittels Clearing-Methode durchsichtig zu machen, blieb den Forschern nur, Knochenfragmente zu untersuchen, in diesem Fall solche vom Oberschenkelhals von Patienten aus der Unfallchirurgie. Und tatsächlich entdeckten sie Gefäße, die den TCVs strukturell sehr ähnlich waren, auch wenn sie dicker waren als jene bei den Mäusen. "Unsere Ergebnisse legen nahe, dass auch menschliche Röhrenknochen, zumindest in einigen Regionen, über solche Verbindungskanälchen verfügen", sagt Gunzer.

Entsprechend stolz ist der Forscher: "Neben der Tatsache, dass man im 21. Jahrhundert nicht jeden Tag eine neue anatomische Struktur findet, haben wir jetzt ein völlig neues Konzept davon, wie die Blutgefäßversorgung in Röhrenknochen aussieht." Als möglichen Beginn einer neuen Ära der Knochenbiologie sieht die Arbeit auch Jan Tuckermann, Leiter des Instituts für Molekulare Endokrinologie an der Universität Ulm. "Man hat zum ersten Mal im kortikalen Knochen ein dynamisches Gefäßnetzwerk gefunden, das sich sowohl bei Entzündungen als auch bei Frakturen verändert."

"Wir müssen das Netzwerk jetzt besser zu verstehen lernen"

Die Entdeckung könnte, so sie sich wirklich auf den Menschen übertragen ließe, von großer Bedeutung sein. "Indem man den Blutfluss im Knochen medikamentös reguliert, könnte man verschiedene Aspekte der Knochenbiologie beeinflussen, etwa den Prozess der Osteoporose oder die Reparatur nach einer Verletzung", sagt Tuckermann. Gunter geht sogar noch weiter: "Wir würden vielleicht erstmals richtig verstehen, was bei einer Knochenmarktransplantation geschieht". Wenn etwa die Stammzellen des Empfängers aus dem Blutkreislauf ins Knochenmark einwandern, könnten die TCVs eine Rolle spielen. Auch einige Krebsarten bilden Tochtergeschwulste im Skelett. Auch sie könnten die Kapillaren nutzen, um den Knochen zu erreichen und dort zu wuchern. "Wenn wir wissen, wie das funktioniert, können wir es vielleicht eines Tages verhindern", sagt Gunzer.

Erst einmal müsse man das Netzwerk jetzt aber besser verstehen lernen, sagt Tuckermann. Man müsse nachweisen, inwieweit es wirklich beim Menschen existiert. Tomografen mit einer noch besseren Auflösung könnten dafür die Methode der Wahl sein. Und es könnte sein, dass nicht nur die langen Röhrenknochen mehr verbergen, als die Wissenschaft bisher vermutet hat. Erst kürzlich hatte eine Arbeitsgruppe an der Universität Harvard die Existenz ähnlicher Kanälchen im Schädelknochen von Mäusen nachgewiesen. Die mikroskopischen Strukturen verbinden die Außenseite des Schädels direkt mit der Hirnoberfläche. Vielleicht also muss das Kapitel "Skelettsystem" in den Anatomiebüchern in nicht allzu ferner Zukunft doch noch einmal umgeschrieben werden.

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