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Notfallmedizin: Tod am Tropf

Es fehlt in keinem Krankenwagen, Millionen Menschen werden damit behandelt. Dabei deuten zahlreiche Studien darauf hin, dass das Notfallmittel HES gefährlich sein könnte. Über Nutzen und Risiken eines vermeintlichen Wundermittels.

Alles begann mit einer Top-Ten-Liste. „Wir haben uns im Krankenhaus einmal hingesetzt und uns überlegt, was sind die Dinge, die wir am häufigsten anwenden, von denen wir aber nicht wissen, ob sie den Patienten wirklich nützen“, sagt Anders Perner, Mediziner am Universitätskrankenhaus Kopenhagen. Auf Platz eins der Liste schrieb der Anästhesist: HES.

Das Kürzel steht für Hydroxyethylstärke, eine Infusion, die Patienten gegeben wird, um ihre Blutzirkulation aufrechtzuerhalten. Obwohl kaum jemand außerhalb der medizinischen Gemeinschaft den Begriff kennt, ist es eine der am häufigsten eingesetzten Substanzen auf Intensivstationen. „Das wird bei fast jedem Blutdruckabfall gegeben“, sagt Konrad Reinhart, Leiter der Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie am Universitätsklinikum Jena. Die Firma Fresenius Kabi etwa verweist stolz darauf, dass ihr Präparat Voluven in mehr als 70 Ländern verwendet wird und bereits mehr als 30 Millionen Menschen damit behandelt wurden. Perner entschied sich, das Notfallmittel in einer großen klinischen Studie zu prüfen.

Das Ergebnis erschien diesen Sommer im Fachblatt „New England Journal of Medicine“: Zumindest bei Patienten mit Blutvergiftung, einer großen Gruppe von Intensivpatienten, schadet HES mehr, als es nützt. Von 398 Patienten die HES erhielten, starben 201. Von 400 Patienten, die stattdessen eine einfache Flüssigkeit namens Ringer-Acetat erhielten, starben 172. In der HES-Gruppe mussten außerdem 87 Patienten mit Nierenersatzverfahren behandelt werden. In der Kontrollgruppe waren es nur 65.

In einer zweiten Studie, die diese Woche ebenfalls im „New England Journal of Medicine“ erschien, wurden 6000 Menschen in Australien und Neuseeland auf Intensivstationen mit HES oder einer einfachen Kochsalzlösung behandelt. Auch dort gab es in der HES-Gruppe mehr Todesfälle. 597 von 3315 Patienten, die das Mittel bekamen starben, das sind 18 Prozent. In der Kontrollgruppe starben 566 von 3336 Patienten (17 Prozent). „Der Unterschied war statistisch zwar nicht bedeutsam“, sagt John Myburgh, einer der Autoren der Studie. Das könnte allerdings daran liegen, dass die Patienten in der Studie insgesamt gesünder waren und ein statistischer Unterschied deshalb schwerer nachzuweisen ist. Sein Fazit aus den beiden Studien ist eine deutliche Warnung: Es gebe keinen Hinweis darauf, dass HES den Patienten nütze, aber deutliche Zeichen, dass das Mittel ihnen schade.

Dabei ist die Theorie einleuchtend: Patienten, die stark bluten oder schwere Verbrennungen haben, schweben in großer Gefahr, weil sie einen beträchtlichen Teil der Flüssigkeit in ihrem Blutkreislauf verlieren können. Dasselbe gilt bei schweren Erkrankungen wie einer Blutvergiftung. „Dann werden die Blutgefäße durchlässiger und ein Teil der Flüssigkeit wandert ins Gewebe. Das ist eines der Grundprobleme der Intensivmedizin“, sagt Tobias Welte von der Medizinischen Hochschule Hannover.

In so einer Situation müssen die Ärzte schnell handeln. Hat der Kreislauf nicht mehr genug Blutvolumen, kann er die Organe nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgen. „Das hält der Körper nur eine gewisse Zeit aus“, sagt der Intensivmediziner Reinhart. „Irgendwann werden dann aber auch die wichtigen Organe nicht mehr versorgt. Der Patient stirbt innerhalb von Stunden.“

Um das zu verhindern, müssen Ärzte das Blutvolumen künstlich hoch halten. Im Zweiten Weltkrieg wurden Soldaten mit schweren Verletzungen dafür noch mit einfachen Kochsalzlösungen, Kristalloide genannt, behandelt. Doch sogenannte Kolloide, wie Gelatine oder Stärke, waren bereits im Gespräch. Der Gedanke: Diese Moleküle binden Flüssigkeit und sie sind gleichzeitig zu groß, um aus dem Gefäßsystem auszutreten. So sollte weniger Flüssigkeit schneller den Kreislauf stabilisieren. Die Annahme sei plausibel gewesen, habe sich aber nicht bewahrheitet, sagt Reinhart heute. „Man hat das unter dieser falschen Annahme mit hoher Marketingkraft und entsprechenden Experten in die Kliniken gedrückt.“

Bereits 2001 war eine Studie im Fachblatt „Lancet“ erschienen, die gewarnt hatte, dass HES bei Sepsis-Patienten zu akutem Nierenversagen führen könnte. Und Reinhart selbst hat an solch einer Studie mitgearbeitet, die 2008 veröffentlicht wurde und die die Überlegenheit von HES belegen sollte. „Aber die Ergebnisse zeigten etwas anderes: Die Patienten, die HES bekommen hatten, starben häufiger und hatten schwerere Nierenschäden“, sagt Reinhart. Nach der Studie habe er ein schlechtes Gewissen gehabt. „Ich dachte: Was habe ich denn da die letzten 25 Jahre gemacht?“

Schon vor der Veröffentlichung der beiden jüngsten Studien kam eine Übersichtsstudie der renommierten „Cochrane Reviews“ zu einem vernichtenden Schluss. Es gebe keinen Hinweis, dass Substanzen wie HES das Sterberisiko von Patienten nach Trauma, Operation oder schweren Verbrennungen verringere, schreiben die Autoren. „Da Kolloide nicht mit einer Verbesserung des Überlebens einhergehen und außerdem deutlich teurer sind als Kristalloide, ist es schwer zu sehen, wie ihr weiterer Einsatz außerhalb klinischer Studien in bestimmten Patientengruppen gerechtfertigt werden kann“.

„Als normaler Mensch fragt man sich: Wie ist das möglich, dass diese Substanzen noch immer auf dem Markt sind?“, sagt Reinhart. Die Antwort ist kompliziert, sie hat mit Geschichte und Gewohnheit zu tun, mit Wirtschaft und sogar Fälschung.

Die ersten HES-Produkte wurden in Deutschland in den 70er Jahren zugelassen. „Damals waren die Anforderungen an Medikamente nicht so hoch wie heute“, sagt der Hannoveraner Welte. Tatsächlich reichte es in kleinen Studien zu zeigen, dass sich bestimmte Laborwerte verändern, dass HES also zum Beispiel den Blutdruck ansteigen lässt. „Die Mittel mussten nicht einmal in den Patientengruppen getestet werden, in denen sie später eingesetzt wurden, also zum Beispiel Menschen mit einer Blutvergiftung“, sagt Welte. Der Nutzen von HES sei nie wissenschaftlich sauber nachgewiesen worden. „Die Aufsichtsbehörden haben viel zu lange weggeschaut“, sagt er.

Inzwischen sieht auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn „ein Signal für ein ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis von HES bei Sepsispatienten“. Bisher sei das Mittel „angesichts der belegten Wirksamkeit von HES“ aber stets positiv zu bewerten gewesen. Die Behörde habe bereits 2008 eine erste europäische Risikobewertung angestoßen. Die Ergebnisse der Studien seien aber widersprüchlich gewesen, manche hätten methodische Mängel aufgewiesen. „Zudem wurden diese Studien mit HES-Formulierungen durchgeführt, die heute unüblich sind“, heißt es in einer Stellungnahme des BfArM gegenüber dem Tagesspiegel. Man könne aber von Ergebnissen für eine der Formulierungen nicht auf die Eigenschaften einer anderen Formulierung schließen.

Eine Argumentation, der sich auch die Hersteller gerne bedienen. „Wenn Nebenwirkungen aufgetaucht sind, haben die Firmen einfach neue, kleinere Moleküle gemacht und sie auf dem Rücken der alten Produkte in den Markt gebracht“, sagt Perner. Da es sich nur um Veränderungen eines bestehenden Medikaments gehandelt habe, habe keines der Präparate die Hürden nehmen müssen, die der Zulassung eines neuen Medikaments heute im Weg stehen würden, sagt er.

Dass HES so viele Jahrzehnte sorglos eingesetzt wurde, dürfte aber auch am Intensivmediziner Joachim Boldt liegen. Der Anästhesist hatte zahllose Studien zu HES veröffentlicht und kam dabei überwiegend zu einem positiven Urteil. Doch 2010 zog das Fachblatt „Anesthesia & Analgesia“ eine Publikation Boldts zurück und kam zu dem Schluss die beschriebene Studie habe nie stattgefunden. Boldt verlor seinen Posten am Klinikum Ludwigshafen und immer mehr seiner Veröffentlichungen wurden in Zweifel gezogen. Im August dieses Jahres kam eine unabhängige Untersuchungskommission zu dem Schluss, dass Boldt in mindestens zehn der beanstandeten Studien gefälschte Angaben veröffentlicht habe.

Auf die Zulassung HES-haltiger Arzneimittel haben Boldts Studien laut Bfarm zwar keinen Einfluss gehabt. Aber sie sind in die Bewertung zahlreicher Übersichtsstudien eingegangen und dürften so dazu beigetragen haben, den Nutzen von HES positiver erscheinen zu lassen.  

Ob eine medizinische Maßnahme mehr nützt als schadet, kann erst eine gut gemachte klinische Studie zweifelsfrei belegen (siehe Interview). Gerade in der Intensivmedizin gebe es aber hohe Hürden für solche Studien, sagt Welte. „Das Problem ist, dass Sie jemand nur in eine Studie einschließen dürfen, wenn er sein Einverständnis gibt.“ Auf der Intensivstation müssten viele Dinge aber sehr schnell passieren und deshalb gebe es kaum Zeit, den Patienten ausführlich zu informieren und um seine Einwilligung zu bitten. Darüber hinaus seien viele Patienten auf der Intensivstation gar nicht ansprechbar. „Das Problem ist in Deutschland nicht einheitlich gelöst und deshalb sind Studien an schwerstkranken Patienten eine Rarität“, sagt Welte. In Perners Studie mussten an Stelle des Patienten zwei unabhängige Ärzte einwilligen. Schweden, wo diese Praxis verboten ist, konnte deshalb an der Studie nicht teilnehmen. Perner nennt es das große Dilemma der Intensivstation: „Die Patienten sind besonders krank. Das bedeutet, was wir als Ärzte tun, ist besonders wichtig, gleichzeitig wissen wir besonders wenig darüber, was wirklich hilft.“

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