zum Hauptinhalt
Sie hat es auf uns abgesehen. Die asiatische Tigermücke.

© James Gathany/CDC/Centers for Disease Control and Prevention/dpa

Verfehlte Umweltziele: Mückenplage wegen fehlendem Naturschutz?

Schutzgebiete für Natur sind weltweit gefährdet. Das bedroht das ökologische Gleichgewicht und kann spürbare Folgen haben – nicht nur in Brandenburg.

Im Westhavelland erleben die Bewohner und auch die ersten Badegäste in diesem Jahr ein besonderes Phänomen. Trotz eines extrem trockenen Frühjahrs, trotz einer späten Kälteperiode davor, macht ihnen eine Stechmückenplage zu schaffen. Selbst bei 30 Grad und in der prallen Sonne sind große Exemplare unterwegs und stechen – ohne sich vorher auf Diskussionen einzulassen, dass Mücken so etwas hierzulande eigentlich nicht machen.

Ob manche von ihnen klimabedingt eingeschleppte und potenziell krankheitsübertragende Invasoren sind – Tigermücken vielleicht – muss noch wissenschaftlich geklärt werden. Spricht man mit Dorfbewohnern, dann hört man jedenfalls immer ein „Sowas haben wir hier noch nicht erlebt“. Bei manchen folgt dann der Nachsatz, dass das ganze Gerede vom Insektensterben ja wohl ziemlicher Unsinn sei.

Nun sind Insekten, genauso wie gestochene Menschen, Teil der Ökologie. Und die ist komplex. Dass es im Frühjahr 2018 in einer Gegend dieses Landes viele, und dummerweise auch blutsaugende Fluginsekten gibt, könnte durchaus damit zu tun haben, dass insgesamt die Fluginsekten nachweislich Mangelware geworden sind. Denn etwa Mauersegler und Mehlschwalben ernähren sich von ihnen. Finden sie auf ihrer Rückreise aus den Winterquartieren nicht genug davon, dann bleiben viele buchstäblich – und qualvoll – auf der Strecke.

Dort, wo es doch noch genug Futter gibt, etwa in Schutzgebieten wie dem Naturpark Westhavelland, kommen sie nicht an. Und dieses Futter hat auch Hunger, in diesem Fall auf Menschenblut. Ob es genau so passiert derzeit, das wissen nicht einmal die Ornithologen bisher. Aber was sie wissen, und jeder, der mit offenen Augen in die Luft guckt, auch: Beide Vogelarten, die pro Paar und Brutsaison etwa ein Kilo Insekten vertilgen, was etwa 250.000 Tieren entspricht, sind bislang weder im Havelland noch in Berlin auch nur ansatzweise in der Zahl gesichtet worden, die normal wäre.

Naturschutzflächen unter zunehmendem Druck

Der Naturpark Westhavelland, der Name legt es nahe, ist ein Gebiet, in dem Natur geschützt ist – nicht so wie in einem Nationalpark, aber auf immerhin 60 Prozent der Fläche gilt der Schutz offiziell als „streng“. Aber ohne dass auch anderswo Natur einigermaßen geschützt ist, bringt auch das oft nicht viel. Ökologie ist ein Netzwerk. Wenn darin die Löcher überwiegen und die noch übrigen Maschen brüchig sind, ist es nicht besonders haltbar.

In ein paar Monaten ist es 25 Jahre her, da trat die auf dem ersten großen und hoffnungsreichen Umweltgipfel in Rio 1992 verabschiedete Biodiversitätskonvention in Kraft. Ziel: Artenvielfalt und Lebensräume erhalten, mehr Natur schützen – im Interesse der Menschen. Auf den ersten Blick sind diese 25 Jahre eine Erfolgsstory. Die unter Schutz stehende Landfläche hat sich seither verdoppelt.

Doch Daten, die eine Gruppe Ökologie-Wissenschaftler am Freitag im Magazin „Science“ vorlegten, zeichnen ein realistischeres Bild. Sie zeigen einerseits, dass mehr als die Hälfte der Fläche der schon vor 1992 unter Schutz stehenden Gebiete in den letzten 25 Jahren zunehmend unter Druck geraten ist: durch Straßenbau, Besiedlung, Tourismus, Landwirtschaft inklusive Agrochemie, sogar Schwerindustrie, und vieles mehr. Insgesamt ist ein Drittel der weltweiten Schutzgebietsfläche – was etwa sechs Millionen Quadratkilometern entspricht – derart unter Druck, dass man laut den Autoren der Studie nicht mehr von effektivem Schutz sprechen kann.

Mogeln beim Ausweisen von Schutzflächen

Interessant ist auch, dass nicht etwa nur arme Nationen diese Aufweichung von Schutzgebieten zulassen, sondern praktisch alle. Und die Daten zeigen, dass ein Großteil der Gebiete, die im vergangenen Vierteljahrhundert neu unter Schutz gestellt wurden, Gegenden sind, denen man dieses Etikett ohne großen Aufwand aufkleben konnte, vor allem dünn oder gar nicht besiedelte Gebirgsregionen. Zudem sind viele Gebiete zwar ausgewiesen worden, um UN-Zielvorgaben zu erreichen, aber tatsächlich sind sie dadurch offenbar nicht besser geschützt als vorher.

Bei der Rio-Folgekonferenz 2010 in Nagoya wurden solche Ziele verabschiedet. Das wichtigste: Bis 2020 insgesamt 17 Prozent der Landfläche der Welt effektiv unter Schutz zu stellen. Heute ist man offiziell bei gut 15 Prozent. Doch zöge man jenes Drittel konsequenterweise ab, dann wäre das Ziel in weiter Ferne. Und auch noch ein paar andere Details findet man in den offiziellen Umweltzielen der UN.

Etwa, dass nicht nur Landschaften, die höchstens als Trainingsgelände für Mondlandungen menschlichen „Druck“ fürchten müssten, als Schutzgebiete ausgewiesen werden dürfen. Und dass auch die Wanderrouten von Tieren geschützt werden müssen, also auch die von Mauersegler und Mehlschwalbe.

Nicht einmal Deutschland, nicht einmal Europa schafft sie jenseits des Papiers umzusetzen. Insektensterben? Soll man nicht „dramatisieren“, sagte jüngst Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner. Muss man auch gar nicht. Ob die Mauersegler noch kommen? Und die Schwalben? Vielleicht ist es sogar besser, wenn nicht. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Aber keine Schwalbe macht vielleicht ein bisschen – nachdenklich.

Zur Startseite