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Eine Ratte hilft im Labor einem Artgenossen, der in einer Falle gefangen ist.

© David Christopher, University of Chicago

Verhaltensexperimente: Mangel an Hilfsbereitschaft ist keine rein menschliche Schwäche

Artgenossen helfen sich gerne, wenn andere mitziehen. Im Verhaltensexperiment mit Ratten beobachten Forscher den Zuschauereffekt.

In den frühen Morgenstunden des 13. März 1964 wurde Kitty Genovese auf offener Straße in New York mit Messerstichen ermordet. Mindestens 38 Menschen beobachteten Teile des Geschehens, aber niemand half der 28-jährigen Frau. Der Mord ist ein drastisches Beispiel für ein in der Psychologie bekanntes Phänomen: Die Hilfsbereitschaft für Menschen in Notlagen sinkt, wenn andere Beobachter untätig bleiben.

Nun zeigt sich im Tierversuch, dass dieser Zuschauereffekt kein rein menschliches Versagen ist. Die Neurobiologin Peggy Mason von der University of Chicago und ihre Kollegen berichten in der Zeitschrift „Science Advances“, dass sich Ratten ähnlich verhalten.

Allerdings mussten die Nagetiere keine Gewalttat an einem Artgenossen beobachten, sondern ihn nur aus einem durchsichtigen Acryl-Käfig befreien. An einem Ende gab es eine Tür, die aber nur von außen geöffnet werden konnte. Es zeigte sich, dass die Tiere schnell lernten, ihre Artgenossen zu befreien, auch wenn sie nicht belohnt wurden.

Husten und Augentränen

Die Psychologen John Darley von der New York University und Bibb Latané von der Columbia University hatten 1968 für Studenten einen anderen Versuchsaufbau gewählt. Sie ließen ihre Probanden Testaufgaben in einem Raum lösen und leiteten dann Rauch durch ein Ventil in der Wand ins Zimmer. Saßen die jungen Leute allein, bemerkten sie den Rauch, im Durchschnitt innerhalb von fünf Sekunden. Saßen die Studenten aber zu dritt oder viert im Raum, dauerte es bis zu zwanzig Sekunden. Alarm schlugen sie dann aber immer noch nicht. Nur in einer von acht Versuchsgruppen meldete ein Student den Rauch. In fünf Gruppen endete der Versuch ohne Reaktion, selbst bei erheblichem Rauchaufkommen, Husten und tränenden Augen.

Das Phänomen wird pluralistische Ignoranz genannt. Können Menschen eine Situation wie eindringenden Rauch oder auch die Hilferufe einer Frau nicht gut einordnen, orientieren sie sich an der Reaktion ihrer Mitmenschen. Vielleicht ist ja nur die Lüftung defekt und hinter den Hilferufen steckt nur ein schlechter Scherz. Bleiben andere Anwesende ruhig, könnte die Situation unbedenklich sein. Im Ergebnis wird dann niemand aktiv. Darley und Latané hatten diese Situation im Experiment mit Eingeweihten herbeigeführt, die sie mit dem Auftrag ruhig zu bleiben in die Studentengruppen gesetzt hatten.

In solchen Situationen kommt häufig auch der Gedanke hinzu, dass andere besser helfen könnten. Je größer die Gruppe ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Anwesenden besser qualifiziert ist einzugreifen. Dieses von Sozialpsychologen „Zuschauereffekt“ genannte Gruppenverhalten ist oft sinnvoll, weil voreilige und auch falsche Reaktionen vermieden werden.

Tiere verhalten sich ganz ähnlich“, erklärt der Verhaltensbiologe Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell und von der Universität Konstanz. So kann hinter einer Bewegung im Busch neben einer weidenden Pferdeherde zwar ein sich anschleichendes Raubtier stecken, aber eben auch nur der Wind. Um unnötigen Energieverbrauch durch wilde Flucht bei einem Fehlalarm zu vermeiden, orientiert sich ein Pferd an seinen Artgenossen: „Bleiben auch sie ruhig, dürfte es wohl doch kein Raubtier gewesen sein und man kann weiter grasen“, fasst Wikelski dieses Verhalten zusammen.

Einen ähnlichen Versuch machten Mason und ihre Mitarbeiter in Chicago, als sie nicht nur eine, sondern zwei oder drei Ratten zu dem in einem Käfig gefangenen Artgenossen setzten. Allerdings hatten die Forscher den zusätzlichen Tieren ein Beruhigungsmittel gespritzt. Prompt ließ sich die unbehandelte Ratte außerhalb des Käfigs von der Ruhe der anderen anstecken und strengte sich viel weniger an, das Tier im Käfig zu befreien.

Saßen dagegen zwei oder drei unbehandelte Ratten außerhalb des Käfigs, befreiten sie den Insassen mit großem Eifer und auch sehr schnell. Auch einzelne Ratten, die einen solchen Vorgang vorher nur unbeteiligt beobachtet hatten, öffneten die Käfigtür schnell, als sie selbst am folgenden Tag an der Reihe waren.

Ähnliches beobachten Sozialpsychologen auch bei Menschen. So helfen Beobachter einem Unfallopfer oder einem krank zusammengebrochenen Menschen viel schneller und effektiver, wenn sie vorher einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht haben. Und wenn die Situation klar ist, steigt genau wie bei den Rattenexperimenten die Hilfsbereitschaft mit der Zahl der Zeugen sogar. Als Richard Philpot von der Lancaster University und seine Kollegen 219 Aufnahmen von Überwachungskameras im öffentlichen Raum im englischen Lancaster, in Amsterdam und in Kapstadt auswerteten, bekamen die Opfer in neun von zehn Fällen Hilfe. Und zwar umso häufiger, je mehr Zuschauer dabei waren, berichteten die Forscher Anfang des Jahres 2020 in der Zeitschrift „American Psychologist“. Roland Knauer

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