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WERT sachen: Karneval

Alle singen „Tochter Zion, freue dich“. Und der, der nach dem Ende dieses Liedes redet, erinnert an den Spruch, der nach dem Selbstmord von Robert Enke von dessen Mutter auf dem Grab der kleinen Tochter aufgestellt wurde: „Lara, Papa kommt“.

Alle singen „Tochter Zion, freue dich“. Und der, der nach dem Ende dieses Liedes redet, erinnert an den Spruch, der nach dem Selbstmord von Robert Enke von dessen Mutter auf dem Grab der kleinen Tochter aufgestellt wurde: „Lara, Papa kommt“. Und sagt: „Ja, so ist es doch.“ Wo befinden wir uns? Nicht in einer Kirche, auch nicht mitten in einem der großen zivilreligiösen Gedenkakte dieses Landes – nein, wir befinden uns auf der Prunksitzung einer traditionsreichen Karnevalsgesellschaft im Gürzenich, der mittelalterlichen Festhalle der Stadt Köln. Also mitten im Kölner Karneval.

Oft kopiert, nie erreicht, möchte man im Blick auf die Versuche sagen, die seit der Wiedervereinigung unternommen werden, um in Berlin eine Filiale des rheinischen Karnevals zu etablieren. Viel zu sehr prägt die Kölner Geschichte den Kölner Karneval: Der Bauer aus dem Dreigestirn trägt nicht nur einen Dreschflegel, sondern einen hermelinbesetzten Hut aus Kurkölner Tagen und die armen preußischen Truppen werden noch Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des preußischen Staates von den Tanzcorps durch den Kakao gezogen. Einen solchen stadtweit verbreiteten Humor im Umgang mit den Autoritäten und Obrigkeiten hat es in Berlin höchstens in Gestalt des politischen Witzes gegeben, aber den kann man ja auch hinter vorgehaltener Hand erzählen. Außerdem scheint es, als habe er den Zusammenbruch der DDR vor zwanzig Jahren nicht recht überlebt.

Spätestens seit der Wiedervereinigung gibt es nun aber Karneval in Berlin. Lange Zeit dachte ich, der zentrale Unterschied zwischen Köln und Berlin sei, dass man in Köln immer noch in Übereinstimmung mit dem Kirchenjahr feiert: Am Aschermittwoch ist am Rhein Schluss, während wir hier in Berlin ganzjährig Karneval haben. Beispiele sind eigentlich überflüssig, es genügt der Blick in die Zeitung oder die Teilnahme an einer der Prunksitzungen der Gremienuniversität.

Die erwähnte Prunksitzung im Gürzenich hat mich freilich in dieser Position leicht erschüttert. Unter großem Gelächter fragte einer der Redner, was eigentlich der Unterschied zwischen Karneval, Fronleichnamsprozession und Christopher Street Day sei, um dann zu antworten, dass es gar keinen Unterschied gäbe: „Hauptsache, de Zoch kütt.“

„Hauptsache, der Karnevalszug kommt“. Manchmal täte uns in unserer Stadt (gerade auch in der Berliner Wissenschaftspolitik) diese heitere Gelassenheit gut, ein wenig mehr Humor anstelle von aufgeregter Auseinandersetzung, aber auch ein wenig mehr Bewusstsein für die wirklich wichtigen Dinge. Von den Kölnern kann man lernen, dass mitten im alltäglichen Karneval auch Wertsachen zur Sprache gebracht werden können.

Der Autor ist Kirchenhistoriker. An dieser Stelle hat er über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte geschrieben. Mit diesem Beitrag endet seine Kolumne.

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