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WERT sachen: Kontexte

Vor einigen Tagen traf ich im Treppenhaus der Bodleiana, der zentralen Universitätsbibliothek in Oxford, eine Frau, die mich außerordentlich freundlich grüßte – so als ob sie mich gut kennen müsste. Da das Treppenhaus des berühmten mittelalterlichen Baus ziemlich eng und dunkel ist, grüßte ich zwar freundlich zurück, aber brauchte eine ganze Weile – inzwischen schon an meinem gewohnten Lektüreplatz L 131 sitzend –, um mich daran zu erinnern, wer mich da gegrüßt hatte: eine kluge Privatdozentin meiner eigenen Universität, die ich eigentlich einigermaßen gut kenne.

Vor einigen Tagen traf ich im Treppenhaus der Bodleiana, der zentralen Universitätsbibliothek in Oxford, eine Frau, die mich außerordentlich freundlich grüßte – so als ob sie mich gut kennen müsste. Da das Treppenhaus des berühmten mittelalterlichen Baus ziemlich eng und dunkel ist, grüßte ich zwar freundlich zurück, aber brauchte eine ganze Weile – inzwischen schon an meinem gewohnten Lektüreplatz L 131 sitzend –, um mich daran zu erinnern, wer mich da gegrüßt hatte: eine kluge Privatdozentin meiner eigenen Universität, die ich eigentlich einigermaßen gut kenne. Sie hat vor reichlich zwei Jahren zwei lange Wochen während einer Sommerakademie der Studienstiftung in Südtirol eine Arbeitsgruppe für Studierende geleitet, wie ich selbst. Wir haben uns dabei mehrfach gesehen und immer wieder gern unterhalten.

Seit einigen Tagen überlege ich, warum ich in Berlin nie Schwierigkeiten hatte, die Kollegin sofort mit jener schönen Sommerakademie zu verbinden, aber im Treppenhaus der Bodleiana nicht in der Lage war, mich zu erinnern, und eher aus Höflichkeit zurückgrüßte. Inzwischen glaube ich die Antwort zu kennen: Es ist nicht zuletzt vom Kontext abhängig, was und wie präzise wir erkennen. Treffe ich die Kollegin zufälligerweise gemeinsam mit Studierenden jener Sommerakademie, die nach Berlin gewechselt sind, fällt es mir ganz leicht, sie einzuordnen, treffe ich sie vor ihrem Institut Unter den Linden, geht es auch noch ganz passabel, sehe ich sie in irgendeinem mittelalterlichen Treppenhaus in England, wo ich gewöhnlich nur Oxforder Kollegen treffe, wird es eben schwieriger.

Die klugen Neurologen der Charité könnten das Phänomen sicher naturwissenschaftlich erklären. Linguisten sprechen vom situativen, nonverbalen Kontext eines Satzes und Philologen erklären uns, dass sich das Wort „Kontext“ ursprünglich von einem lateinischen Verb mit der Bedeutung „verweben“ oder „verflechten“ herleitet. Ich frage mich eher: Haben denn die Philosophen und Theologen, haben die Soziologen und Literaturwissenschaftler solche Kontextabhängigkeit unseres Erkennens schon genügend bedacht?

Kontextabhängigkeit ist ja nicht auf das Wiedererkennen von Personen beschränkt. Ob und wie wir Texte verstehen, beispielsweise Gedichte, ist ja wohl stark kontextabhängig. Ob wir einer Position emphatisch zustimmen, uns vorsichtig des Urteils enthalten oder energisch ablehnen, wahrscheinlich auch. Und nur wenn wir das gründlich bedenken, werden wir konsistente Positionen entwickeln und konstantes Verhalten an den Tag legen können. Ganz egal, ob wir uns im großen Marmortreppenhaus der Humboldt-Universität oder einer engen Oxforder Holzstiege befinden.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden dritten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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