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Das MPI für Wissenschaftsgeschichte stellte seinen neuartigen Forschungsansatz vor.

© Marvin Müller / MPIWG, 2023

Wissenschaft und Politik: Neue Forschungsansätze in Berlin

Wie altes und neues Wissen das Handeln der Politik beeinflusst, ist wenig erforscht. Eine neue Abteilung am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte soll dies nun ändern.

Wissenschaft stellt man sich gemeinhin als eine Tätigkeit vor, bei der gut ausgebildete Spezialisten nach allgemein anerkannten Methoden überprüfbare Ergebnisse erarbeiten – Ergebnisse, die politischen Entscheidungsträgern als Leitplanke dienen können.

Aber gilt das auch in unseren krisenhaften Zeiten? Kriege, Pandemie, Migration, Klimawandel: Einerseits wächst mit jeder neuen Krise der Wunsch bei vielen, klare Vorgaben und Lösungsansätze von der Wissenschaft zu bekommen. Andererseits sinkt das Vertrauen in sie, haben „alternative Fakten“ und Verschwörungstheorien Konjunktur.

Mehr als Wissenschaft im engeren Sinne

Etienne Benson, seit 2022 Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) in Dahlem und zuvor als Historiker für Umweltwissenschaft an der University of Pennsylvania tätig, hat sich vorgenommen, das komplexe Verhältnis von Wissenschaft und Politik auf neue Weise zu erforschen.

Seine Abteilung am MPIWG, die jetzt offiziell eröffnet wurde, trägt den Titel „Knowledge Systems and Collective Life – Wissenssysteme und gesellschaftliches Zusammenleben“. 13 Wissenschaftler werden sich diesem Thema in unterschiedlichen Projekten nähern.

Der Ansatz ist sehr breit, wie Benson in der vergangenen Woche beim Launch Event im Dahlemer Institut sagte. Allein der Terminus „knowledge systems/Wissenssysteme“ umfasst sehr viel mehr als nur die Wissenschaft im engeren Sinne. „Auch Bauern, Jäger, Heilerinnen haben Wissen“, sagte Benson. „Viele alternative Wissens- und Beziehungsformen sind zwar informeller, lokaler und alltäglicher als die der modernen Wissenschaft und Politik, aber ebenso wichtig.“

Die Abteilung möchte daher auch Quellen erschließen, die in offiziellen Archiven vernachlässigt werden, wie mündliche Erzählungen und persönliche Erinnerungen, und ein Labor für Oral-History-basierte Projekte aufbauen.

Der neue Direktor Etienne Benson am MPI für Wissenschaftsgeschichte.
Der neue Direktor Etienne Benson am MPI für Wissenschaftsgeschichte.

© Verena Braun

Der zweite Terminus im Abteilungstitel, „kollektives Leben“, meint mehr als nur Politik, sondern das Zusammenleben allgemein, das, darauf weist Benson als Umweltwissenschaftler ebenfalls hin, „nicht ohne den Beitrag von Tieren, Pflanzen, Pilzen, Viren, Bakterien und anderen Nicht-Menschen“ möglich wäre.

Es kommt nicht alle Tage vor, dass am MPIWG eine neue Abteilung eröffnet wird, wie Institutsleiterin Dagmar Schäfer beim Launch Event deutlich machte: Seit der Gründung des Instituts im Jahr 1994 hat es nur fünf Abteilungseröffnungen gegeben. Drei Abteilungen gibt es im MPIWG, und jede wird bis zu deren jeweiligem Renteneintritt von einem Direktor oder einer Direktorin geleitet.

Da Lorraine Daston als Direktorin 2019 ausgeschieden ist, wurde die Leitung der Abteilung II neu ausgeschrieben und mit Etienne Benson besetzt. Er begann seine Arbeit bereits vor einem Jahr, innerhalb dessen Wissenschaftler:innen ausgewählt und Projekte zusammengestellt wurden. Beim Launch Event in Dahlem stellten sich die Projekte vor.

„Kultur“ als illiberaler Kampfbegriff

Drei Beispiele: Im Schwerpunkt „Umweltwissen in Krisenzeiten“ wird die Postdoktorandin Alejandra Osorio Tarazona über den Umgang mit Wissen der indigenen Landbevölkerung in Peru forschen. Bis in die 1980er Jahre hinein wurden die Indigenen als ungebildete Bauern gesehen, die lernen sollten, mit westlichen Methoden ihr Land zu bearbeiten. Inzwischen betrachtet man sie als Experten für einen nachhaltigen Umgang mit der Natur.

Der Schwerpunkt „Vom Vertrauen in die Wissenschaft zum relationalen Wissen“ fragt nach den Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Wissenssystemen. Hier ist das Projekt von Postdoktorand Cameron Brinitzer angesiedelt: Er untersucht am Beispiel Ungarns, wie „Kultur“ zum Kampfbegriff für illiberale Regime werden konnte: Die Central European University in Budapest, 1991 gegründet als Ausbildungsstätte für eine neue, liberale Elite, wurde ab 2017 aus Budapest herausgedrängt, mit dem Argument, die weiße christliche „Kultur“ müsse vor liberal-kosmopolitischen Einflüssen geschützt werden.

Der dritte Schwerpunkt innerhalb der Abteilung heißt „Datenpolitiken – Datenpraktiken“ und stellt Fragen wie: Wer wird bei Projekten zur Datenerhebung und -verwaltung ausgebeutet und wer profitiert davon? Wann verängstigen und isolieren Daten Menschen – und wann inspirieren und verbinden sie uns? Wie wurden bzw. werden Daten erfasst und gespeichert – und welche Auswirkungen hat das? Die Historikerin Christine von Oertzen arbeitet hierzu am Beispiel der Volkszählung von 1871.  

Mit ihrem betont offenen Ansatz und durch Kooperationen mit nicht-wissenschaftlichen Organisationen und verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen möchte die Abteilung dazu beitragen, so Etienne Benson, „inklusivere Versionen der Geschichte zu erzählen und einen Weg durch die politisch-epistemologischen Unsicherheiten der Gegenwart zu ebnen“.

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