Machtlose Himars in Saporischschja: Russlands Artillerie am AKW wird für die Ukraine zum Problem
Die russische Armee missbraucht das Atomkraftwerk in Saporischschja als Schutzschild. Das dürfte die Gegenoffensive der Ukraine auf Cherson zunehmend lähmen.
Die Ukraine konnte zuletzt größere Erfolge bei ihrer Gegenoffensive zur Befreiung der von Russland besetzten Stadt Cherson im Süden vermelden. Mehrere Brücken sollen mit Hilfe der aus dem Westen gelieferten Präzisions-Mehrfachraketenwerfer Himars in der vergangenen Woche zerstört worden sein – und damit zentrale Versorgungsrouten für Russlands Truppen. Der britische Geheimdienst berichtete sogar: „Russlands 49. Armee am westlichen Ufer des Dnjepr ist nun sehr verwundbar.“
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Diese Erfolgsmeldungen sollten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Ukraine bei ihrer Süd-Offensive immer wieder mit massiven Problemen zu kämpfen hat. Das wohl derzeit schwerwiegendste dürfte Europas größtes Atomkraftwerk in Saporischschja darstellen. Am Ostufer des Dnepr und direkt gegenüber der Stadt Nikopol blicken die russischen Truppen von dort direkt auf die ukrainischen Stellungen.
Das AKW-Gelände, das sich bereits seit 3. März unter russischer Kontrolle befindet, hat sich über den Juli in eine regelrechte Festung verwandelt. Bereits vor zwei Wochen berichteten Reporter des „Wallstreet Journal“ von russischen Artillerie-Geschützen, die sich rund um das AKW befänden.
Neben Panzern sei dort auch ein Mehrfachraketenwerfer des Typs BM-30 zwischen den Reaktortürmen stationiert. Zudem soll die russische Armee laut der Betreiberfirma Enerhoatom 500 Soldtaten auf das Gelände gebracht haben.
„Sie verstecken sich dort, damit sie nicht getroffen werden können“, sagte Oleksandr Sayuk, Bürgermeister von Nikopol, zur „New York Times“. „Warum sonst sollten sie sich dort aufhalten? Ein solches Objekt als Schutzschild zu benutzen, ist sehr gefährlich“, so Sayuk weiter.
Auf dem Weg Richtung Cherson wird das AKW zum Problem
In unmittelbarer Nähe der sechs Druckwasserreaktoren und der versiegelten Atommüll-Behälter können die russischen Truppen nahezu unbehelligt auf die Stadt Nikopol und andere ukrainische Stellungen feuern. Denn für einen ukrainischen Gegenschlag ist das Risiko eines Zwischenfalls im AKW schlicht zu groß.
150 Kilometer weiter südlich bildet bei Nova-Kakhovka ein Staudamm über dem Dnjepr eine der letzten Versorgungsrouten für die russischen Truppen. Bei der Rückeroberung Chersons dürften die ukrainischen Truppen nicht darum herumkommen, den Damm einzunehmen oder zu zerstören. Permanentes russisches Artillerie-Feuer aus Saporischschja dürfte das Unterfangen nochmals erschweren.
Je weiter die Ukraine in Richtung Cherson vorrückt, desto dringlich wird das kriegsstrategische Problem. Und eine schnelle Lösung gibt es offenbar nicht. Auch bei Serhiy Shatalov, der eines der ukrainischen Infanteriebataillone in Richtung des Staudamms führt, sorgt die Lage rund um das AKW zunehmend für Ratlosigkeit.
Die russische Artillerie sei nach einigen Wochen der Himars-Schläge größtenteils verstummt - mit Ausnahme der russischen Einheiten am Atomkraftwerk, sagt er im Gespräch mit der „New York Times“. „Wie können wir darauf regieren? Es handelt sich schließlich um ein Atomkraftwerk“, beschreibt er das Dilemma.
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Mit Sorge blickt auch die internationale Atombehörde IAEA auf das AKW. Seit Monaten bemüht sie sich darum, dass ihre Inspekteure die Anlage untersuchen können. IAEA-Chef Rafael Grossi bezeichnete die Lage vor Ort vor etwa zwei Wochen als „unhaltbar“. So würden wichtige Wartungsarbeiten an dem AKW ständig verschoben und wesentliche Geräte nicht geliefert, was zu einem erhöhten Unfallrisiko führe.
Zudem gibt es Berichte über physische Gewalt und Lösegeldforderungen, mit denen die russischen Soldaten die Mitarbeiter des AKW und deren Familien drangsalieren sollen.
Trotz alledem sperrt sich auch die Ukraine gegen eine Inspektion. Möglich sei ein solcher Besuch erst, wenn die Ukraine wieder die Kontrolle über die Anlage habe, erklärte Energoatom. Die ukrainische Atombehörde argumentierte, ein Besuch von IAEA-Experten könne die „Präsenz“ der Besatzer legitimieren. (Tsp/dpa)
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