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Ein verlassener russischer Panzer nahe Isjum

© AFP/Juan Barreto

Tote, zerstörte Brücken und Häuser: Was in den befreiten Orten von der russischen Besatzung zurückbleibt

Mehr als 150.000 Menschen wollen die Ukrainer im Nordosten bereits befreit haben - darunter auch die Städte Isjum und Balaklija. Wie ist die Situation vor Ort?

Auf dem Telegram-Video, das seit Sonntag im Umlauf ist, läuft ein ukrainischer Soldat einen Waldweg außerhalb der Stadt Isjum im Süden der Region Charkiw entlang. Er filmt von links nach rechts – und überall sind russische Panzer, erkennbar an den „Z“-Kriegssymbolen, zu sehen. Sogar Schuhe stehen teilweise noch vor den Panzern.

Der Kreml behauptet, seine Truppen geplant „umzugruppieren“. Die Realität vor Ort zeigt, dass dies kaum der Wahrheit entsprechen kann.

Um die 150.000 Menschen in 30 Gemeinden im Nordosten der Ukraine sollen durch die Gegenoffensive bereits befreit worden sein, berichtete Hanna Maljar, die ukrainische Vize-Verteidigungsministerin, am Dienstag. Mehr als 6000 Quadratkilometer Land haben Kiews Truppen seit Mittwoch, dem 7. September, demnach zurückerobert.

In dieser Woche durfte die Presse erstmals in befreite Gebiete, am Mittwoch reiste der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sogar höchstselbst nach Isjum. Aus den Städten Isjum und Balaklija gibt es mittlerweile exemplarische Eindrücke, wie sich die Situation in den befreiten Gebieten darstellt.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Isjum.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Isjum.

© Ukrainian presidential press-service/AFP

In der strategisch wichtigen Stadt Isjum arbeiten die ukrainischen Truppen CNN zufolge daran, das Stadtzentrum komplett abzusichern. Soldaten durchsuchen demnach die Straßen und Gebäude, um russische Soldaten oder Kollaborateure zu finden, die sich möglicherweise noch verstecken. Die Stadt ist zudem digital komplett von der Außenwelt abgeschnitten, weil Russland das Mobilfunknetz gekappt hatte.

1. Russisches Equipment

Wie CNN berichtet, fuhren ukrainische Soldaten an den Tagen nach der Befreiung triumphierend mit russischen Panzern durch Isjum, das „Z“-Kriegssymbol übermalt. Auch Artillerie hätten die Russen zurückgelassen. Die Geschütze gehörten zu den wichtigsten der russischen Angriffe. Nun wird die Ukraine die zurückgelassenen Waffen, so sie noch intakt sind, für ihre Gegenoffensive nutzen können.

Das Design der russischen Militärfahrzeuge, wie Panzer oder Haubitzen, ist ähnlich und Munition haben sie dafür auch. Die Ukrainer haben CNN zufolge allerdings nicht nur ein großes Waffenarsenal erbeutet. Die fliehenden Russen ließen demnach auch Essen und Trinken auf den Tischen, Maildokumente verteilt auf dem Boden eines Büros sowie Klamotten auf Wäscheleinen zurück.

Der Zustand des zurückgelassenen Equipments ist unklar. Es gibt Berichte der „Washington Post“ über Waffen und Fahrzeuge, die die Russen vor ihrer Flucht zerstörten, damit die Ukrainer sie nicht nutzen können.

Denn: Isjum war ein Hauptstandort für die Wartung von russischen Fahrzeugen. Eine hohe Anzahl an Panzern, Artilleriegeschützen und Mehrfachraketenwerfern dürfte sich dort bis zuletzt befunden haben.

Der ehemalige US-Generalleutnant Ben Hodges geht davon aus, dass einige Panzer bis zuletzt noch genutzt wurden. Ihm zufolge sieht es so aus, als dürften Soldaten zu Fuß oder in kleinen Fahrzeugen geflohen sein, um nicht entdeckt zu werden oder weniger Angriffsfläche zu bieten, sagte er zur „Washington Post“. Einige Soldaten sollen noch schnell in zivile Klamotten geschlüpft sein, um wie fliehenden Einwohner auszusehen.

Allerdings schafften es nicht alle Soldaten rechtzeitig aus der Stadt: So wurden auch russische Soldaten gefangen genommen. Wie viele, ist unklar. Militäroffizielle sprechen CNN zufolge von einer „großen Zahl“.

2. Nachwirkungen für die Einwohner

Die Angst vor den Russen bestimmt noch immer die Stimmung in der Stadt. Die meisten Bewohner Isjums, die CNN fragte, waren zu verängstigt, um offen über das in den vergangenen Monaten Erlebte zu reden.

Als ukrainische Polizeibusse ankamen, um die Einwohner im Ort Werbiwka, wenige 100 Meter außerhalb von Balaklija, zu versorgen, lief der „New York Times“ zufolge eine Menschenmenge auf diese zu. Einige sollen geweint haben.

Menschen vor einem zerstörten Haus in Isjum.
Menschen vor einem zerstörten Haus in Isjum.

© AFP / Juan Barreto/AFP

Zu den letzten Eindrücken soll gehört haben, dass die russischen Soldaten Raketen in der Stadt abwarfen. „Es war beängstigend. Es ist unmöglich zu beschreiben, wie beängstigend es war“, sagte eine Einwohnerin dem britischen „Telegraph“. Die Reporter berichten, dass die Reaktionen der Einwohner eine Mischung aus Euphorie, Erleichterung und tiefem Schock waren.

Die Menschen, die die Befreier am Wochenende vorfanden, waren fast alle im mittleren Alter oder älter. Die jüngeren Leute, so heißt es, seien mit ihren Kindern hauptsächlich nach Europa geflohen.

Doch auch jetzt, wo die Stadt befreit ist, müssen die Einwohner mit den Nachwirkungen der Besatzung leben: Drei Brücken, die nach Balaklija führen, seien zerstört worden, berichtet der britische „Guardian“, ebenso mehrere Häuser in- und außerhalb der Stadt, darunter Fabriken und Farmen.

3. Verletzte und Tote

Die Gegenoffensive ging auch physisch nicht spurlos an den Einwohnern Balaklijas und Werbiwkas vorüber. Mehr als zwei Dutzend Zivilisten sollen verletzt worden sein, weil sie Metallkugeln von Granaten abbekamen.

„Ich habe Leute in den Straßen schreien gehört“, sagte eine Einwohnerin zur „New York Times“. Sie könne verstehen, dass die Ukrainer das Risiko, Landsleute zu verletzten, beim Angriff auf Balaklija eingehen mussten, sagte sie. „Wie hätten sie uns sonst hier rausholen sollen?“

Die Polizei soll in Balaklija am Dienstag zudem zwei Männer gefunden haben, die an den letzten Tagen vor der Befreiung getötet worden sein sollen. Ermittler berichten, dass sie in der Stadt und den umliegenden Dörfern mehr als ein Dutzend Tote gefunden haben.

Wie viele Menschen dort Opfer von Folter wurden, ist noch nicht endgültig geklärt. Berichten zufolge sollen russische Kräfte im örtlichen Polizeirevier ein Foltergefängnis unterhalten haben. Im Keller seien während der Besatzung durchgehend um die 40 Menschen eingesperrt gewesen, berichtete der ranghohe ukrainische Polizist Serhij Bolwinow.

„Die Besatzer nahmen diejenigen mit, die beim Militär dienten oder dort Verwandte hatten, und suchten auch nach denen, die der Armee halfen“, schrieb der Leiter der Ermittlungsabteilung bei der Polizei Charkiw auf Facebook. Zeugen berichten, dass Gefangene mit Stromschlägen gefoltert worden seien.

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