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Update

50 Jahre Mauerbau: So gedenkt Berlin

Bernauer Straße, Bornholmer Brücke, BVG-Leitstelle: Berlin begeht den 50. Jahrestag des Mauerbaus. Für einige kommt das überraschend.

+++ Bernauer Straße +++

Um Punkt zwölf läuten die Glocken. Und in der Bernauer Straße erklingt die deutsche Nationalhymne. Die Schweigeminute begann hier schon ein paar Minuten früher. Es folgen Gesangseinlagen und Tanzperformance. Als "rührend" und "bewegend" beschreiben die Besucher die Veranstaltung. Seit dem frühen Morgen strömen Hunderte Besucher, Berliner und viele Touristen, an den Ort, wo die zentrale Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag des Mauerbaus stattfindet. Mit dabei sind beispielsweise Etienne Jollet aus Frankreich. Er ist Kunsthistoriker und extra aus Paris angereist. "Dies ist ein Ort, an dem Werte wie Hoffnung, Frieden, Menschlichkeit noch eine Bedeutung haben", sagt er. Er ist auch begeistert von der neuen Installation, die an den verlauf der Mauer erinnern soll. Die Stehlen seien eine gelungene Rekonstruktion, sagt er. "Die zeigen den Prozess des Baus und des Verschwindens der Mauer."

Die beiden jungen Spanier, Eva und Samuel (beide 19), wurden von dem Jahrestag überrascht. Eigentlich waren die beiden auf der Suche nach dem Flohmarkt im Mauerpark. Als sie dann merkten, was hier los sei, sind sie zur Gedenkveranstaltung gekommen. "In der Schule haben wir ein bisschen was gelernt, aber nicht so viel", sagen sie. Die Gedenkstätte finden sie jedoch schwierig und vor allem für Ausländer recht unzugänglich. Vieles sei nur auf Deutsch erklärt und man verstehe nicht sofort, um was es hier eigentlich geht.

Für die 45-köpfige norwegische Reisegruppe ist das dagegen kein Problem. Denn sie sind extra wegen des Gedenktages nach Berlin und an die Bernauer Straße gekommen. Sie nennen sich "Travel for Peace" und organisieren Jugendreisen. Extra für diese Tour haben sie T-Shirts angefertigt, auf denen vorne steht: "Riv Murer" und auf der Rückseite die Übersetzung: "Keine Mauern mehr." Die Leiterin der Gruppe, Helga Arntzen, ist begeistert. Sie wurde selbst im Osten geboren, ist dann nach Westdeutschland geflohen und lebt seit den 60er Jahren in Norwegen. Und sie sagt: "So gut wie Deutschland hat kein anderes Land seine Geschichte aufgearbeitet."

+++ Mauerpark +++

Während andernorts Berlin im Schweigen seiner Teilung gedenkt, wird im Mauerpakt gekaut, gejoggt und gekickt, werden Hunde ausgeführt. Das Leben im Park nimmt seinen gewohnten Lauf. Thomas Gründel schweigt, blickt über das Geschehen auf dem Platz vor ihm. Hinter ihm die Mauer. Seine Frau setzt ihren gemeinsamen Sohn auf eine Schaukel. Die Familie lebt in Bayern. Ursprünglich kommt sie aus Sachsen, er aus Thüringen. Und sie können Anekdoten erzählen. „Ich war mit meinem Vater 1988 hier. Da war ich 13 Jahre alt und wir haben uns die Grenze an der Jannowitzbrücke angeschaut.“ Durch einen Spalt habe man dort auf die andere Seite spähen können. „Mein Vater begeisterte sich für Eisenbahnen.“ Er habe gesagt: „Schau mal Junge, da ging einmal die S-Bahn entlang.“ Zwei Minuten später wurden Vater und Sohn von DDR-Grenzern abgeführt und mussten vier Stunden lang in einem Zimmer warten. „In der Zeit hat die Stasi bei uns im Ort alles abgeklappert: Arbeitsplatz, Freundeskreis, Familie.“ Natürlich wissen die beiden von der Schweigeminute. „Wir waren vorhin auch bei der Gedenkstätte, aber eine gemeinsame Feier sieht für mich anders aus“, sagt Thomas Gründel. Die Polit-Prominenz habe sich nicht besonders unters Volk gemischt. Dass er in einer historischen Grau-Zone steht, ist auch Thomas Gründel nicht bewusst. Noch 1988 hatte hier die DDR ihre Grenze um 50 Meter in den Westen gerückt, vom Wall, wo die Mauer noch heute den Blick auf den Jahn-Sportpark verdeckt, runter auf die flache Wiese. Die Schräge hatte den DDR-Grenzern Sorge bereitet. Dieser Mauerteil war der letzte, der erbaut wurde – aber auch der erste, den man wieder eingerissen hatte. Während sich das Paar über den genauen Grenzverlauf unterhält, mischt sich eine Zeitzeugin ins Gespräch. Sybille Uecker ist 57 Jahre. Sie hat Bau und Fall der Mauer selbst miterlebt. Am 13. August lebte sie in der Behmstraße nördlich des damaligen Eberswalder Güterbahnhofs, wo heute der Mauerpark ist. Ihre Mutter wollte an dem Tag, das Grab des verstorbenen Großvaters im Wedding besuchen. „Doch als meine Mutter aus dem Fenster schaute, sagte sie zu uns Kindern, wir könnten unsere Jacken wieder ausziehen.“ Von der Grenzverschiebung 1988 hatte sie von der Ostseite Berlins nichts bemerkt. Sybille Uecker betrachtet die Einigung mit gemischten Gefühlen. Die Wende habe viele Menschen hart getroffen. „Unsere Biographien fanden seitdem keine Beachtung mehr.“ Sie war damals Bauzeichnerin, übt den Beruf heute aber nicht mehr aus. „Wir fühlten uns auf gewisse Weise enteignet“, erinnert sich die 57-Jährige. „Wo man vorher einfach entlanglaufen konnte, war plötzlich Privatbesitz.“ Man habe nicht mehr wissen können, wo man hergehen darf und wo nicht. „Aber natürlich ist es gut, dass diese Mauer weg ist.“

+++ Bornholmer Brücke +++

An dem ehemaligen innerstädtischen Grenzübergang will die NPD demonstrieren und an die Maueropfer erinnern. Das Gelände ist weiträumig gesperrt. Die eigentliche Hürde für die Rechten war aber der Schienenersatzverkehr auf der Ringbahn. DIe Polizei hat dann einen Bus mit rund 30 Nazis vom Ostkreuz zur Bornholmer Brücke begleitet. Nur musste der Bus auch durch die Gegendemo, was für ein wenig Tumult und einer Festnahme gesorgt hat. Nun sind rund 60 Demonstranten auf der Brücke versammelt. Lautstark ist dagegen die Gegendemonstranten. Aber um Punkt 12 herrscht Schweigen an jenem Ort, an dem am 9. November 1989 die ersten DDR-Bürger die Grenze nach West-Berlin überschritten.

+++ BVG-Leitstelle+++

Um zehn nach halb zwölf rufen die Kollegen von der Straßenbahn an. Sie haben gerade den Verkehr über die Bornholmer Brücke eingestellt, schwere Demo, rechts gegen links, aber irgendwie müssen die Fahrgäste ja zur S-Bahn kommen. Könnte nicht vielleicht der 106-er Bus bis zum Bahnhof Bornholmer Straße verlängert werden? Kommt nicht in Frage, sagt Betriebsleiter Werner Striepling, „zu gefährlich für unsere Leute“.  Werner Striepling sitzt seit sechs Uhr in der Betriebsleitstelle Omnibus der BVG, und die Demonstration passt ihm gerade gar nicht ins Konzept. Um Punkt zwölf Uhr sollen alle in Berlin eingesetzten Busse eine Minute lang still stehen,  und das sind immerhin gut 800. Einen Schreibtisch weiter verfolgt Infomanager Axel Westphal die vielen kleinen grünen Pfeile auf seinem Bildschirm. Jeder Pfeil steht für einen Bus, und wenn alles klappt, ist gleich Ruhe auf dem Bildschirm. Um 11.59 Uhr sagt Westphal: „Dann legen wir mal los.“ Über einen Telefonhörer spricht er seine Ansage, sie ist jetzt in allen Bussen zu hören: „Sehr geehrte Damen und Herren, die BVG hält gemeinsam mit der Stadt Berlin um 12 Uhr  im Gedenken an den Mauerbau vor 50 Jahren und seine Opfer inne.“ Kurzer Blick zur Seite: Alle Pfeile stehen still. „Hat geklappt“, sagt Westphal. Noch knapp zwei Stunden bis zum Feierabend. Das Problem mit der Demo an der Bornholmer Brücke erbt die Spätschicht.

+++ Checkpoint Charlie +++

Bis kurz vor 12 Uhr herrscht normaler Touristenalltag. Überall hört man die Kameras klicken. Selbst die vor dem ehemaligen Kontrollhäuschen niedergelegten Kränze irritierten niemanden. Aber Punkt 12 Uhr stand die Ampel an der Kochstraße Ecke Friedrichstraße auf Rot. Und ein Sightseeing-Bus, der gerade vorbei fuhr blieb plötzlich stehen. Es herrschte andächtige Ruhe. Auf einer Videoleinwand vor dem Checkpoint-Charlie-Museum war zu lesen: "Wir trauern um die Getöteten des DDR-Grenzregimes". Anschließend wurden alle Namen, der an der Mauer ermordeten Personen auf die Videowand projiziert. Außerdem packten die Betreiber des Museums noch einmal ihre Holzkreuze aus, die sie vor ein paar Jahren von einem Nachbargrundstück entfernen mussten. Viele Touristen wurden von der ganzen Aktion überrascht. So auch Paul und Michel Coldry aus Sydney. "Beeindruckend" sei das sagten sie und schwiegen dann eine Minute lang. Ab 14 Uhr gibt es dann am Checkpoint Charlie noch eine Gedenkveranstaltung mit Zeitzeugen und DDR-Flüchtlingen.

+++ Bus M29 +++

Der Bus M29 stand um 12 Uhr am U-Bahnhof Moritzplatz in Kreuzberg still. Nicht mitten auf der Fahrbahn, sondern auf einer Busspur, so dass der weitere Verkehr nicht behindert wurde. Hätte es an dieser Stelle keine gesonderte Fahrbahn gegeben, wäre die Busfahrerin bereits etwas früher an einer Bushaltestelle angehalten, sagte sie. Die Passagiere wurden dann mit einer zentralen Durchsage über die Schweigeminute informiert, die per Funk in den Bus übertragen wurde - woran es einige Kritik bei den Fahrgästen gab. „Die Akustik war so schlecht, ich habe gar nicht verstanden, weshalb der Bus stehen bleibt“, sagte Turan Gerek. Gisela Weller wusste schon vorher Bescheid, was gleich passieren wird. Während im Bus alle Gespräche verstummten, dachte die 66-Jährige an ihre eigene Zeit während der Berliner Teilung. Und danach? „Ich hätte gar nicht gedacht, dass eine Minute so lang ist.“ Um 12.01 Uhr schlossen sich dann die Türen und der Bus reihte sich wieder in den fließenden Verkehr ein.

+++ Epiphanienkirche in Charlottenburg +++

Das Geläut ist weit über den Stadtring zu hören. Es ist 12 Uhr Mittags. Wie andernorts in Berlin schlagen auch in der Epiphanienkirche in Charlottenburg alle Kirchenglocken. Vier Glocken, immer und immer wieder, fünf Minuten lang. In der Kirche haben sich unterdessen rund 25 Männer und Frauen zur Andacht versammelt. Kaum ist der letzte Glockenschlag verhallt, tritt Pfarrer Steffen Reiche ans Mikrophon. „Berlin steht still und hört den Glocken zu“, sagt der 51-Jährige. „Mit jedem Glockenschlag erinnert die Stadt an den Tod von Unschuldigen.“ Reiche, nach der Wende sozialdemokratischer Kulturminister in Brandenburg und seit kurzem Pfarrer in der Epiphanienkirche, spricht ausführlich über die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts – über das DDR-Regime, die Mauertoten, aber auch über die Rolle der Kirche bei der friedlichen Revolution 1989. „Im Herbst 1989 haben wir gelernt, mit Gott über Mauern zu springen“, fasst der gebürtige Ostdeutsche, der inzwischen im Westen der Stadt zu Hause ist, zusammen. „Ost und West haben heute zu einer guten Einheit gefunden“, lautet sein Fazit 22 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer.

+++ Potsdamer Platz +++

Am Potsdamer Platz war von der Schweigeminute nur wenig zu spüren, weder untern auf dem Bahnsteig der S-Bahn noch oben in den Arkaden und unterm Sony-Zeltdach. Auf der Nord-Süd-Strecke kam der Zug genau eine Minute nach 12 Uhr an, möglicherweise hatte er ja auf der Strecke gestoppt. Der Zettel mit der Durchsage auf Deutsch und Englich, den sich die Zugabfertigerin zurecht gelegt hatte, kam daher nicht mehr zum Einsatz. Auch auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig war um 12 Uhr kein Zug eingerollt, der dortige Abfertiger machte seine Durchsage für die wenigen wartenden Fahrgäste. Wie sie reagierten, konnte er in seiner Dienstraum nicht feststellen. Auch in den Potsdamer Platz Arkaden wurde die Schweigeminute durch eine Durchsage angekündigt. Eine Reaktion war zumindest für den Verkäufer eines Café-Standes im Untergeschoss nicht erkennbar: „Alles wie sonst.“ Aber möglicherweise haben die Menschen ja doch für sich der Maueropfer gedacht, vermutete die junge Frau in der Info-Box im Erdgeschoss. Sie selbst war während der Minute durch Auskunftssuchende abgelenkt. Ganz wie gewohnt ging das Leben im Sony-Center weiter: Schaulustige, Restaurant-Besucher – die übliche Mischung, wie zwei Security-Männer, ein auf Kundschaft wartender Rikscha-Fahrer und ein Mann, der samt Kaffeebecher gemütlich auf einer Mauer sitzt, übereinstimmend sagen. Der Potsdamer Platz ist nun mal kein Ort des Schweigens.

+++ U 12 +++

Um kurz vor zwölf standen die Räder der U-Bahnlinie 12 am Wittenbergplatz still. Eine Lautsprecherdurchsage wies die Fahrgäste darauf hin, dass die BVG dem Beginn des Mauerbaus mit einer Schweigeminute gedenken möchte und der Verkehr daher kurz unterbrochen wird. "Der Mauerbau ist heute auch überall", sagt eine Frau zu ihrem Sitznachbarn. Gestört hat das kurze Innehalten niemanden. Einige unterbrachen kurz ihre Unterhaltung, die meisten ließen sich jedoch durch das Gedenken nicht von ihren Gesprächen abhalten, sodass sich die Schweigeminute eher wie ein etwas längerer Fahrgastwechsel anfühlte. Nur einige ausländische Touristen, die die Lautsprecherdurchsage wohl nicht verstanden hatten, schauten sich etwas verdutzt um und wunderten sich, warum die Bahn hier etwas länger hält.

+++ Und Sie? +++

Wie haben Sie die Schweigeminute erlebt? Schreiben Sie uns ihre Erlebnisse mit Hilfe der Kommentarfunktion. (Tsp)

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