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Johannes Vogel, Generaldirektor des Berliner Museums für Naturkunde.

© Christoph Soeder/dpa

75 Visionen für Berlin – Folge 30: „Schaffen wir ein offenes Innovationsökosystem, mitten im Herzen Berlins“

Das Berliner Naturkundemuseum will den Fortschritt in Wirtschaft und Gesellschaft vorantreiben. Wie, das erklärt sein Leiter in unserer Serie.

Was hat der Hai, von dem es auch in der Sammlung des Museums für Naturkunde Berlin viele beeindruckende Exemplare gibt, je für Sie, liebe Leserinnen und Leser, „getan“? Hier drei Beispiele aus dem Alltag: Der Hai hat die moderne Kunst beflügelt. Wie man einen Hai präpariert und ausstellt, hat Damien Hirst in einem Naturkundemuseum gelernt. Eines seiner Meisterwerk ist in der Saatchi Gallery in London zu bewundern.

Der Hai inspirierte auch Innovation im Sport und im Verkehr. Der Haihaut verdanken Leistungssportlerinnen und -sportler Schwimmanzüge, die sie schneller durch das Wasser gleiten lassen; Flugzeuge Tragflächen, die den Windwiderstand und damit den Kerosinverbrauch senken; Schiffe einen Antifouling-Anstrich, der sie vor unerwünschten Mitreisenden bewahrt. Im Gesundheitsbereich werden Haiproteine in der Bekämpfung von Alzheimer erprobt.

Doch nicht nur sie, tragen zu unserer Gesundheit bei: 50 Prozent der Wirkstoffe, die in der Medizin verwendet werden, sind an Naturstoffe angelehnt. Was für ein Reichtum! Und welcher Reichtum wartet da noch – wenn wir mehr um die Kraft und das Innovationspotenzial der Natur wüssten und dieses verantwortlich nutzen verständen.

Dieser 38 Zentimeter kurze Sägehai (Pristiophorus cirratus), gefangen um 1810 vor Australien, ist einer von 550 Haien in der Sammlung des Naturkundemuseums. Solche Modelle inspirierten Künstler wie Damien Hirst oder die Entwicklung neuer Schwimmanzüge.
Dieser 38 Zentimeter kurze Sägehai (Pristiophorus cirratus), gefangen um 1810 vor Australien, ist einer von 550 Haien in der Sammlung des Naturkundemuseums. Solche Modelle inspirierten Künstler wie Damien Hirst oder die Entwicklung neuer Schwimmanzüge.

© Carola Radke/MfN 2012

Leider aber handeln wir nicht immer so klug oder vernünftig. Die ungebremste Zerstörung der Umwelt hat mit zur Covid-19-Krise beigetragen. Die ganze Menschheit leidet unter den Folgen, nicht zuletzt unsere Wirtschaft. Gleichzeitig aber sehe ich in der Krise eine riesige Chance – eine Chance nachhaltig mit dem Reichtum der Innovationskraft und der Nachhaltigkeit der Natur leben zu lernen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Wir haben das Wissen, die kreativen Köpfe, die Infrastruktur, die Wirtschaft und die technischen Fähigkeiten, um aus dieser Krise Großes und Neues entstehen zu lassen und das Zeitalter der Ausbeutung hinter uns zu lassen.

Bisher hat diese Krise der (westlichen) Welt wenigstens 20 Billionen Dollar (16,6 Billionen Euro) an neuen Schulden gebracht. Mit der Investition nur eines Bruchteils dieser Summe könnten wir die Natur allumfänglich verstehen lernen, aber nicht nur das: Wir könnten ein Model der belebten Welt in all ihrer Vielfalt und Interaktion bauen. Dies wäre eine solide Basis, um solche globalen Katastrophen und Pandemien verhindern zu können. Und wir müssten nicht, wie jetzt, eine unendlich hohe Rechnung für die wirtschaftlichen und sozialen Schäden bezahlen. Wir müssen und wir können anders! Deutschland hat alles, was es braucht, diesen Weg erfolgreich einzuschlagen: Wissenschaft, Wirtschaft, Geld, Zivilgesellschaft und Demokratie.

Der britische Künstler Damien Hirst im Jahr 2012 mit seinem Kunstwerk "The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living", bei dem er einen ausgewachsenen Hai in Formaldehyd ausstellte.
Der britische Künstler Damien Hirst im Jahr 2012 mit seinem Kunstwerk "The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living", bei dem er einen ausgewachsenen Hai in Formaldehyd ausstellte.

© imago/ZUMA Press

Genau hier will sich das Museum für Naturkunde mit seinem gesellschaftlichen Auftrag und seiner Wissenschaft einbringen. Wir werden mit unserem Wissen, unserer Sammlung und mithilfe des großzügig durch Bund und dem Land finanzierten Zukunftsplanes wesentliche Beiträge und Impulse setzen. Wir werden uns zu einem Motor und Treiber in einem gemeinwohlorientierten Innovationsökosystem für Natur, Gesellschaft und Gesundheit entwickeln.

Das 21. Jahrhundert steht im Zeichen der Bio-Revolution. Biologie, Lebenswissenschaften und die Megatrends Digitalisierung und Künstliche Intelligenz verschmelzen in ihr zunehmend. Um eine nachhaltige und gerechte Entwicklung zu beflügeln, muss das Lernen aus der Natur- und Kulturgeschichte noch mehr in den Mittelpunkt dieser Entwicklung gerückt werden. Die Bio-Revolution wird auch das alltägliche Leben verändern. Die rasante Herstellung von mRNA-Impfstoffen, der gezielte Erbguteingriff in Keimbahnen durch die Gen-Schere Crispr, die Herstellung von künstlichem Fleisch und anderer neuer Nahrungsmittel oder die Analyse der Lebewesen im Ozean für neue Wirkstoffe zeigen das.

[Alle Beiträge der Serie "75 Visionen für Berlin" finden Sie hier.]

Mit der Bio-Revolution eröffnen sich Chancen und Herausforderungen, die im Licht von Nachhaltigkeit und globaler Gerechtigkeit gemeinsam mit Menschen unterschiedlicher Herkünfte erforscht und gestaltet werden müssen. Wissenschaftliche und wirtschaftliche Chancen müssen realisiert werden und gleichzeitig muss sorgfältig erkundet werden, welche unerwünschten oder zunächst unerwarteten Nebenwirkungen mit diesen positiven Innovationen verbunden sind.

Erforschung, Schutz, Nachhaltigkeit, Innovation und Entwicklung für und durch die Natur sind möglich. Seit vielleicht zwei Millionen Jahren gibt es den Menschen, und die Nutzung der Natur ist das einzige, was uns täglich trägt. Daran wird sich nichts ändern. Der Trick wäre aber, dieses ab morgen bitte smart und nachhaltig, anstatt ausbeuterisch und kurzsichtig zu tun.

Eine nachhaltige Zukunft oder die Fortführung der Hybris mit elenden Folgen für Mensch und Natur liegen dabei eng beieinander. Covid-19 ist der erste Bote. Die Bio-Revolution bietet die Chance, uns selbst, die Welt und die biologische Vielfalt neu zu entdecken und im globalen Dialog nachhaltig zu gestalten. Ob es um die Luft zum Atmen geht oder um sauberes Trinkwasser, um Nahrung oder Kleidung, um Brennmaterialien oder Baustoffe, um saubere Meere oder Medikamente: auf der großen Vielfalt an natürlichen Ressourcen, die uns die Natur zur Verfügung stellt, basiert unser Leben. Sie ist das Fundament einer guten Lebensqualität. Der Verlust an biologischer Vielfalt und der Klimawandel sind somit die größten auch gesundheitlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Ungebremst werden die Folgen vor allem ein gesundes Aufwachsen der Kinder, die heute geboren werden, gefährden.

Das Museum für Naturkunde in Berlin Mitte gilt als eines der größten und renommiertesten Häuser dieser Art weltweit.
Das Museum für Naturkunde in Berlin Mitte gilt als eines der größten und renommiertesten Häuser dieser Art weltweit.

© Imago/Jürgen Ritter

Nicht Greenpeace, sondern das Weltwirtschaftsforum listet den „Verlust der biologischen Vielfalt“ als eines der Top drei der globalen Risiken auf; nicht der WWF, sondern die Schweizerische Rückversicherungsgesellschaft SwissRe schätzt, dass 20 Prozent aller Länder vom Zusammenbruch des Ökosystems bedroht sind, da die biologische Vielfalt abnimmt. Diese Berichte sind nur zwei, die verdeutlichen, dass der Verlust der biologischen Vielfalt kein akademisches Problem ist; er ist eine große Bedrohung für die deutsche, die europäische, die globale Wirtschaft, für die Gesundheit aller Menschen und den gesamten Planeten.

Die ungehemmte Ausnutzung der Natur bringt Pandemien, der Verlust an biologischer Vielfalt verstärkt den menschengemachten Klimawandel lokal und regional. Zugleich verschärft der menschengemachten Klimawandel den Verlust an biologischer Vielfalt und die quälende Ungerechtigkeit auf dieser Welt.

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Wie im Prozess der Evolution in den vergangenen 3,8 Milliarden Jahren vielfältige Herausforderungen (zum Beispiel natürlicher Klimawandel, immer wieder auftretende neue Krankheitserreger) mit Bravour gemeistert wurden, ist eine wichtige Wissensquelle, um diesen Entwicklungen zu begegnen. Wir werden dafür unsere Sammlung umfassend erschließen. Erforscht wird damit gleichzeitig das diversifizierteste und nachhaltigste System des bekannten Universums – unser Heimatplanet.

Als Forschungsmuseum der Leibniz-Gemeinschaft nehmen wir unsere wissenschaftliche und unsere gesellschaftliche Verantwortung wahr. Wir verbinden Forschung und Wissenstransfer mit Integration, Öffnung und Teilhabe! Deshalb entwickeln wir unsere Sammlung zu einer sprudelnden Quelle fundierten Wissens, ökonomischer Wertschöpfung, Teilhabe und Inspiration für Nutzende unterschiedlicher Herkünfte weiter. Unsere Sammlung ist die Grundlage für die gesellschaftlich hoch relevante Forschung zum natürlichen und kulturellen Erbe in einer globalisierten Welt sowie zu Fragen des Umganges mit dem gemeinsamen Erbe (Shared Heritage) der Menschheit und dessen respektvoller Nutzung heute.

[Der Botaniker Johannes Vogel hat Teile seines Studiums und Berufslebens in England verbracht. Seit 2012 ist er Generaldirektor des Museums für Naturkunde in Berlin. Heute lehrt er zudem als Professor für Biodiversität und Wissenschaftsdialog an der Humboldt-Universität und ist ,

Mitglied High Tech Forum der Bundesregierung ]

Wir wollen in diesem Prozess Raum schaffen, um mit einer Vielfalt von Stimmen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen, kulturellen, sozialen, geografischen Bereichen im Gespräch Forschungsfragen zu und gut durchdachte Antworten auf die Herausforderungen zu finden. Indem wir einen integrierten und offenen Ansatz realisieren, der neuartige, multiperspektivische Formen des Forschens und des Wissenstransfers ermöglicht, erschließen und öffnen wir diese Quelle für neue Perspektiven und die Antworten auf diese Herausforderungen.

Museumsdirektor Johannes Vogel mit Präparaten und Skeletten im unsanierten Vogelsaal im Obergeschoss vom Museum für Naturkunde in der Invalidenstraße 43 in Berlin-Mitte.
Museumsdirektor Johannes Vogel mit Präparaten und Skeletten im unsanierten Vogelsaal im Obergeschoss vom Museum für Naturkunde in der Invalidenstraße 43 in Berlin-Mitte.

© Thilo Rückeis

Der Zukunftsplan des Museums für Naturkunde Berlin ist hierfür die Grundlage: Fünf interdisziplinäre Forschungscluster, die in Kooperation mit nationalen und internationalen Partner*Innen entwickelt werden, werden dazu beitragen mit modernsten Methoden Wissenslücken zu schließen, soziale und technische Innovationen und Wertschöpfung zu ermöglichen, Menschen für die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft zu begeistern, unsere Wissenschaft und unsere Privilegien in sozialen Bezügen zu reflektieren Zusammenarbeit und Respekt lokal, regional und global zu stärken.

Dieser Dialog zielt darauf ab, die Bevölkerung und die Entscheidungstragenden in Politik und Wirtschaft dafür zu gewinnen, die bestehenden Chancen für einen Wandel zu nutzen sowie konkrete Maßnahmen auszugestalten und zu verwirklichen. Wir werden mit unserer exzellenten Forschung dazu beitragen, innovative Methoden zu entwickeln, die gezielt partizipative Veränderungsprozesse ermöglichen und zukunftsfähige Problemlösungen wahrscheinlicher machen. Wir wollen dazu beisteuern, die Basis für wissenschaftliche, soziale und technische Innovationen sowie alltägliches innovatives Handeln zu schaffen. Das Ziel ist ein offenes Innovationsökosystem, mitten im Herzen Berlins, das dem Gemeinwohl verpflichtet ist.

Johannes C. Vogel

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