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Blättern in Erinnerungen. Die Londoner Filmemacherin Katya Krausova und der kanadische Fotograf Yuri Doic sind dem Sinn des Lesens sehr nahe gekommen.

© promo

Ausstellung in der Staatsbibliothek: Bücher, ihr sollt ewig leben!

Am Tag des Buches eröffnete in der Staatsbibliothek eine Ausstellung, die vielen wundersamen Zufällen und Begegnungen zu verdanken ist.

Es gibt eine jüdische Tradition, nach der Bücher nicht einfach weggeworfen werden dürfen. Sie müssen begraben werden wie menschliche Wesen. In einer zehn Jahre währenden gemeinsamen Reise sind die Londoner Filmemacherin Katya Krausova und der kanadische Fotograf Yuri Doic dem tiefen Sinn dieser Tradition sehr nahe gekommen. Am Welttag des Buches eröffnete am Donnerstagabend in der Staatsbibliothek eine Ausstellung der beiden, die Bücher aus einer verloren gegangenen Welt zeigt, Bücher, die selbst Geschichte sind, Bücher, die bei der kleinsten Berührung zu Staub zerfallen, mumifizierte Bücher, Bücher, deren Stempel wie Mahnmale sind für ihre ermordeten Besitzer. Eher zufällig begegneten sie sich bei einem Wiedersehensfest für jüdische Emigranten, die nach dem sowjetischen Einmarsch 1968 die Slowakei verlassen hatten.

Teil des Festes war eine Fotoausstellung von Doic mit Bildern von Menschen, die den Holocaust überlebt hatten. Wie so vieles an der Geschichte war die Ausstellung einem Zufall zu verdanken. Bei der Beerdigung seines Vaters hatte Doic 1997 eine Frau getroffen, die ihm erzählte, dass sie regelmäßig jüdische Überlebende besucht. Sie selbst hatte Auschwitz überlebt.

Die Spurensuche begleiten

Nach dem Willen der Nazis sollten an einem Märztag 1942 alle Juden für immer aus der Slowakei verschwinden. Manche schafften es, dennoch zu überleben, und kehrten später zurück. Die Fotografien berührten Katya Krausova so sehr, dass ihr die Idee zu einem Dokumentarfilm kam. Vielleicht könnte sie den Fotografen bei seiner Spurensuche begleiten. Es gab viele bedeutsame Zufälle, die bei diesem Projekt geholfen haben, eine Spur führte zur nächsten, ein Kontakt zum anderen.

Katya Krausova besaß ein Buch, das der Vater des Fotografen geschrieben hatte über jüdische Gemeinden in der Slowakei. Doic besaß das seltene Buch zwar auch, war aber nicht darauf gekommen, es für die Suche zu benutzen. Einmal wollten sie eine Frau in Bardejov interviewen. Die aber wollte ihre Geschichte nicht erzählen. „Ich will mich nicht erinnern“, sagte sie. Krausova blieb beharrlich: „Können wir wenigstens zum Tee kommen?“ Das konnten sie, und während der Teestunde änderte die Frau ihre Meinung: „Das ist vielleicht die letzte Chance, meine Geschichte zu erzählen.“

Nach 64 Jahren stand noch alles genauso da

Also tat sie es. Als sie den Plattenbau, in dem die Frau lebte, wieder verlassen wollten, stand plötzlich ein Nachbar da und bat sie, ihm zu folgen. „Eigentlich hatten wir keine Lust. Es war spät, wir waren müde.“ Am folgenden Morgen führte er sie zu einer Schule, aus der an dem Märzmorgen 1942 alle Schüler und der Lehrer abgeholt worden waren. Nach 64 Jahren stand noch alles ganz genauso da wie damals: die Bücher auf den Regalen und im Gebetsraum, die Tassen und die Zuckerdose in der Wohnung des Lehrers über der Schule.

Es war, als sei die Zeit angehalten worden an diesem Ort, als habe sie sich geweigert, voranzuschreiten nach dem schrecklichen Verbrechen. Der Mann, der sie dorthin geführt hatte, war ein evangelischer Kirchenvorsteher. Sein Nachbar, ein Jude, der überlebt hatte, war jeden Tag zu dieser Schule gegangen, um zu beten. Kurz vor seinem Tod übergab er dem Nachbarn den Schlüssel mit den Worten: „Du bist ein Mann Gottes. Hüte dieses Haus.“ Heute kann man die alte Schule besichtigen.

Zehn Reisen unternahmen der Fotograf und die Filmemacherin in zehn Jahren. Die Fotoausstellung wurde bereits in mehreren Städten gezeigt, unter anderem bei der UN in New York. Der Dokumentarfilm ist gerade fertiggestellt worden. Das Buch zur Ausstellung heißt „Last Folio“ oder „Letztausgabe“, weil die Bücher über Generationen immer weitergegeben wurden. Und dann plötzlich dem Verfall preisgegeben waren, weil ihre Besitzer getötet wurden.

Manche der Bücher sind über 200 Jahre alt

Einmal waren der Fotograf und dieFilmerin in einem Privathaus in Michalovce. Dorthin hatten in den 70er Jahren Überlebende die Bücher aus der Synagoge gerettet, bevor die Kommunisten sie abgerissen haben. Kaya Krausova war fasziniert von den Stempeln in den Büchern, die nicht nur den Besitzer nannten, sondern auch seine Profession. Plötzlich findet sie ein Gebetbuch mit dem Stempel Jakab Deutsch. „Sag’ mal, wie hieß eigentlich dein Großvater?“, fragte sie den Reisegefährten.

„Wo kam er her, was hat er gemacht?“ Nie hatten sie in all den Jahren über die Schicksale ihrer eigenen Familien gesprochen. Damenschneider sei er gewesen in Michalovce, gab er zur Antwort. Da gibt sie ihm das Buch in die Hand. Es ist das Gebetbuch seines Großvaters. Erst der Vater hatte unter der kommunistischen Herrschaft den Namen in „Doic“ geändert.

Viele der Bücher, die sie gefunden haben, waren sehr alt, manche über 200 Jahre. Und weil man in der Gegend lange Deutsch gesprochen hat, stehen in vielen der Bände neben den hebräischen Texten deutsche Übersetzungen. Was aus den Büchern, die auf den Fotos wie Kunstwerke wirken, im Einzelnen geworden ist, wissen sie nicht. Nur so viel: Die meisten haben dank ihres Projekts eine würdige Grabstätte gefunden.

Potsdamer Str. 33, bis 27. Juni Mo-Fr 9 bis 21 Uhr, Sa 10-19 Uhr. Eintritt frei. Yuri Doic & Katya Krausova: Last Folio. Ein fotografisches Gedächtnis. Prestel Verlag. München 2015, 39,90 Euro

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