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Im Brennpunkt. Autonome-linksradikale Aktionen und Anschläge sind in Berlin inzwischen häufiger als rechtsextremistische Straftaten.

© dpa

Brandanschläge auf die Bahn: Beginnt ein neuer Linksterrorismus?

Die Serie von Brandanschlägen auf die Bahn hat eine heftige Debatte ausgelöst: CDU-Politiker sehen Parallelen zur Baader-Meinhof-Gruppe, die auch mit Brandstiftungen begann. Extremismusforscher widersprechen.

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sieht die jüngsten Anschläge in Berlin als Ausdruck eines deutlich zunehmenden Linksextremismus, der Berliner CDU-Innenpolitiker Andreas Gram sieht die „Vorstufe zum Linksterrorismus“ erreicht und fühlt sich an die RAF erinnert, die ab den 70er Jahren Schrecken verbreitete: „Die Baader-Meinhof-Bande begann ebenfalls mit Brandanschlägen“, sagt er. Einschätzungen wie diese prägen die politische Debatte über die Brandanschläge auf Bahnanlagen in Berlin und Umgebung. Aber geben sie die Realität zutreffend wieder? Darüber gehen die Meinungen auseinander.

Die angeblichen Berliner Täter wiesen am Donnerstag in einem neuen Bekennerschreiben den Vorwurf des Terrorismus zurück. Im linken Internetforum „Indymedia“ schreiben sie, weder durch die gezündeten noch die entschärften Brandsätze habe eine Gefahr für Menschen bestanden. Ziel sei gewesen, die „Signal- und Datenkommunikation“ zu unterbrechen. Die Brandsätze hätten aus elektronischen Zeitgebern und Flaschen mit Brandbeschleunigern bestanden.

Ein Blick in die letzten veröffentlichten Zahlen der Innenverwaltung unterstützt zumindest die Feststellung, dass die linksextremistische Gewalt zugenommen hat – und die Zahl vergleichbarer rechtsextremistisch motivierter Taten überholt hat: 841 Fälle von linksextremistisch motivierter Gewalt wurden in Berlin alleine im ersten Halbjahr 2011 gezählt, teilte Innensenator Ehrhart Körting (SPD) kürzlich mit. Das wären, aufs Jahr hochgerechnet, gut doppelt so viele Taten wie im Vorjahr, als 823 Taten gezählt wurden. Die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten im ersten Halbjahr 2011 gibt Körting hingegen mit 585 an, der Großteil Propagandadelikte. Und spektakuläre, als linksextrem verbuchte Fälle wie die zahlreichen Autobrandstiftungen – laut Polizei gingen in diesem Jahr bereits 269 Autos in Berlin aus politischen Motiven in Flammen auf – oder der Anschlag auf eine Friedrichshainer Polizeiwache, der im April fast ein Menschenleben forderte, spitzten die Lage weiter zu.

Dazu kommt, dass die vom Berliner Verfassungsschutz erfasste Zahl von Angehörigen linksextremistischer Organisationen im vergangenen Jahr leicht gestiegen ist, von 2200 auf 2260 Menschen. Die Hälfte davon wird als „aktionsorientiert, auch gewaltbereit“ eingestuft. Laut Verfassungsschutz zählt die Berliner Szene zu den größten in Deutschland. Rund jeder Sechste der bundesweit 6800 vom Verfassungsschutz gezählten gewaltbereiten Linksradikalen lebt in der Hauptstadt, heißt es im Verfassungsschutzbericht.

Ob und in welchem Ausmaß der Linksextremismus hier tatsächlich auf dem Vormarsch ist, ist unter Fachleuten allerdings umstritten. Die Zahlen in den Verfassungsschutzberichten sind dafür zumindest keine sichere Basis, sagt der Extremismusexperte Hans-Gerd Jaschke. Die Angaben über die politisch motivierten Delikte basieren auf der individuellen Einschätzung von Taten durch Polizei und Staatsschutz – wobei von Behörde zu Behörde unterschiedliche Kriterien angelegt werden, sagt der Professor für Politikwissenschaft, der an der Hochschule für Wirtschaft und Recht unter anderem angehende Polizisten unterrichtet. Er weist darauf hin, dass zum Beispiel in Hamburg Anschläge gegen Autos und ähnliche Aktionen nur dann als politisch motiviert eingeschätzt werden, wenn es Bekennerschreiben gebe. In Berlin hingegen teilt die Polizei das nach den Umständen der Tat selbst ein. „Deswegen ist die Zahl der Anschläge in Berlin höher als anderswo“, sagt Jaschke. Von den 105 Brandanschlägen mit 269 beschädigten Wagen, die die Berliner Polizei im laufenden Jahr als politisch einschätzte, waren lediglich elf von Bekennerschreiben begleitet. Wenn nun Politiker auf Grundlage dieser Zahlen feststellen, dass es eine dramatische Veränderung bei extremistischen Anschlägen gebe, sei das „abenteuerlich“, findet Jaschke. Und auch die Angaben über Mitglieder radikaler Gruppen seien nur „Schätzzahlen.“ Ähnlich skeptisch äußern sich auch andere Beobachter wie der SPD-Verfassungsschutzexperte Tom Schreiber.

Dass die Zahlen zu extremistischen Taten „nicht randscharf“ sind, räumt auch CDU-Politiker Gram ein, der den Verfassungsausschuss des Abgeordnetenhauses leitet. Dennoch hat er keine Zweifel daran, dass die Entwicklung der vergangenen Jahre eine Zunahme linksextremistischer Gewalt zeige. Er legt dabei allerdings eine weitere Definition von politisch motivierter Gewalt an als zum Beispiel die Polizei: Während die Polizei bei den in diesem Jahr in Berlin bislang gezählten 335 Fällen von Autobrandstiftung (mit 632 beschädigten Wagen) davon ausgeht, dass nur ein Drittel politisch motiviert waren, schätzt Gram, das zwei Drittel aller Taten politisch motiviert sind. Seine Kritik: „Die linksextremistische Szene wurde hier unter Rot-Rot nicht gleichermaßen bekämpft wie die rechtsextremistische.“ Das sei Ziel der Koalitionsverhandlungen über eine rot- schwarze Regierung mit der SPD: „Wir müssen die autonome Szene mehr durchdringen.“

Die Diagnose der Einseitigkeit bestätigt auch Extremismusforscher Jaschke: „Der Linksextremismus ist lange vernachlässigt worden.“ Das habe zum Teil damit zu tun, dass große Teile der linksextremistischen Szene zwar orthodoxe Weltbilder vertreten, aber nicht gewaltbereit sind. Außerdem habe es bestimmte „Themenkonjunkturen“ gegeben: Bis 1990 war der Linksextremismus im Fokus von Öffentlichkeit und Verfassungsschützern, in den 90er Jahren richtete sich die Aufmerksamkeit wegen einiger spektakulärer Übergriffe auf den Rechtsextremismus, und ab 2001 konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf den Islamismus.

In einem anderen Punkt widerspricht Jaschke allerdings der Sichtweise von Gram und anderen politischen Akteuren: Die in der aktuellen Debatte über die Anschläge auf Bahnanlagen gezogenen Parallelen zu den Aktivitäten der RAF ab den 70er Jahren hält der Wissenschaftler für unzutreffend. Um von einem „sozialrevolutionären Terrorismus“ zu sprechen, wie ihn die RAF verkörpert habe, bedürfe es dreier Merkmale, die bislang nicht gegeben seien: Eine unruhige, als „quasirevolutionär“ empfundene gesellschaftliche Situation, eine terroristische Strategie und ein entsprechendes Sympathisantenumfeld. Nichts davon sei heute gegeben.

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