zum Hauptinhalt
Ein Lebenswerk: Gunter Demnig hat in seinem Leben bereits etwa 100.000 Stolpersteine verlegt.

© imago images/Future Image/Jean MW via www.imago-images.de

Berliner Stolperstein-Erfinder: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen wird“

1995 setzte Gunter Demnig den ersten Stolperstein ein. Heute sind die Steine das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Ein Gespräch über widerwillige Hausbesitzer und die deutsche Erinnerungskultur.

| Update:

Herr Demnig, Sie sind der Erfinder der Stolpersteine, die in Deutschland fast jeder kennt. Ihren Namen dagegen kennt man kaum. Halten Sie sich bewusst im Hintergrund?
Ich habe mich andersrum nie bewusst in den Vordergrund gedrängt und nie eigenständig Werbung für die Stolpersteine gemacht. Es geht nicht um mich. Es geht um die Menschen auf den Steinen. Die Familien, die dahinterstehen. Und diejenigen, die ihre Geschichte recherchieren und die Steine in Auftrag geben. Ich setze sie dann bloß ein.

Den ersten Stein verlegten Sie im Januar 1995 in Köln. Er sollte an Sinti und Roma erinnern, die von den Nazis verfolgt wurden. Berlin ist heute mit mehr als 10.000 die Stadt mit den meisten Stolpersteinen, in ganz Europa sind es 105.000 – das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Und Sie fahren bis heute täglich durch die Republik, um neue zu verlegen.
Ja, heute waren es neun, in Villingen-Schwenningen. Manche werfen mir vor, dass ich das nur noch als Routine sehe, was ich da mache. Das ist nicht so, im Gegenteil: Oft reisen Angehörige zu den Verlegungen an. Ich erinnere mich an einen Mann, der aus England kam. Seine Mutter und Großmutter hatten ihn während des Nazi-Regimes dorthin geschickt, als er noch jung war. Warum, hat er erst später begriffen.

Als er Jahrzehnte später vor ihren Stolpersteinen stand, sagte er: „Das sind keine Grabsteine. Können es nicht sein, die beiden sind in Auschwitz verbrannt worden. Aber es sind Schlusssteine. Ich habe das Gefühl, jetzt kann ich wieder nach Deutschland kommen.“ Solche Momente lassen einen nicht kalt. Auch nach all den Jahren nicht.

Am 9. November jähren sich die Novemberpogrome. Was würden Sie sagen: Wie steht es in Deutschland um das Erinnern?
Wir haben in Deutschland viele zentrale Denkstätten, das ist auch gut so. Da werden an Tagen wie diesem Kränze abgelegt. Die Stolpersteine dagegen erinnern konstant, sie sind mitten in unserem Alltag. Eine riesengroße, historische Karte. Denn die Ermordungen und Deportationen sind nicht irgendwo geschehen. Es waren Menschen aus unserer Nachbarschaft.

Viele junge Menschen wollen verstehen, wie das alles passieren konnte. Und verhindern, dass es wieder passiert.

Gunter Demnig, Erfinder der Stolpersteine

Hat das auch so viele Jahrzehnte später noch Wirkung?
Wir arbeiten bei der Verlegung und Pflege immer wieder mit Schulklassen zusammen. Anfangs hatten mich mehrere Lehrer gewarnt: Den Schülern stehe das Thema bis zum Hals. Ich habe meistens das Gegenteil erfahren. Viele junge Menschen wollen verstehen, wie das alles passieren konnte. Und verhindern, dass es wieder passiert. Immer wieder sind es auch sie, die für Stolpersteine recherchieren und Spenden organisieren. In Berlin-Charlottenburg zum Beispiel haben Schulen Putzpatenschaften übernommen. Das ist gelebter Geschichtsunterricht.

Allerdings sind längst nicht alle Fans der Stolpersteine: In der Vergangenheit haben sich Stadträte und Hausverwaltungen immer wieder gegen ihre Verlegung gewehrt.
Ja, hier in Villingen-Schwenningen zum Beispiel sind die Immobilienmakler gegen die Steine. Aus Angst, dass dann Neonazis angreifen, Scheiben einwerfen. Dass die Häuserpreise leiden. Einmal hat ein Rechtsanwalt in Köln geklagt, dass sein Haus nun 100.000 Euro weniger wert sei. Er hat verloren. Das Gericht entschied: Die Steine wurden aus Bürgerspenden finanziert, die Straße gehört der Stadt.

Auch von jüdischen Stimmen gibt es Kritik. Ihre berühmteste Gegnerin ist Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und mehrere Jahre Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sie nannte das Projekt „unerträglich“.
Sie sagt, die Steine würden dazu einladen, die Opfer mit Füßen zu treten – so, wie es die Nazis gemacht haben. Und weil sie dagegen ist, haben sich mehrere Städte grundsätzlich gegen die Verlegung von Stolpersteinen ausgesprochen. Das ist auch der Grund, warum es in München bis heute keine gibt.

Was entgegnen Sie dieser Kritik?
Ich kann sie nicht wirklich verstehen. Die Nazis haben ihre Opfer nicht einfach nur mit Füßen getreten, sie hatten ein ausgefeiltes Vernichtungsprogramm. Es ist außerdem kein Zufall, dass die Oberfläche der Stolpersteine aus Messing besteht. Dieses Material wird durch Benutzung blankpoliert. Heißt: Wer auf Stolpersteinen herumtrampelt, bringt sie dadurch zum Glänzen. Charlotte Knobloch wollte lieber eine Erinnerung auf Augenhöhe. Das Gute an den Steinen ist aber: Wenn man vor ihnen steht und etwas über die Opfer lesen will, muss man sich vor ihnen verbeugen.

105.000
Stolpersteine gibt es mittlerweile in ganz Europa.

Womit Knobloch in jedem Fall recht hatte: Die Steine sind ungeschützt, werden immer wieder beschädigt oder entwendet.
900 Stolpersteine waren davon insgesamt betroffen. Einer der ersten Fälle geschah in Greifswald: 2012 wurden dort in der Nacht zum 9. November alle elf Steine entfernt. Im Netz wurde eine Seite veröffentlicht: „Greifswald – stolpersteinfreie Zone“. Die Rechnung der Täter ist allerdings nicht aufgegangen. Danach kamen so viele Spenden zusammen, dass ich die elf Steine wieder verlegt habe – und zusätzlich 25 neue. Das kann auch immer nur die Antwort auf solche Attacken sein: weitermachen.

Ich habe in all den Jahren mehrere Morddrohungen bekommen. Angst habe ich aber keine.

Gunter Demnig

Wie erleben Sie die Situation seit dem Angriff auf Israel am 7. Oktober und der Häufung antisemitischer Straftaten, auch in Städten wie Berlin?
Ich bin gebürtiger Berliner und mehrmals im Jahr hier. Auch, um Steine einzusetzen. Bei meiner Arbeit habe ich keine direkte Veränderung bemerkt. Schon lange sind vier Beamte vor Ort, wenn ich Stolpersteine verlege – zwei in Uniform, zwei vom Staatsschutz, die für politische Straftaten verantwortlich sind. Ich habe in all den Jahren mehrere Morddrohungen bekommen. Angst habe ich aber keine.

Sie sind 76 Jahre alt, noch heute verlegen Sie die meisten Steine selbst. Warum?
Ich erinnere mich an einen Fall in Rotenburg an der Wümme, vor 20 Jahren. Sechs Stolpersteine. Vater und Mutter, in Ausschwitz gestorben. Zwei Angestellte, die mit im Haus gewohnt haben, in Minsk und Maly Trostinec ermordet. Und zwei Töchter, die nach Kolumbien und England fliehen konnten. Beide kamen zur Verlegung. Beide hatten sich seit ihrer Flucht nicht mehr gesehen. Als sie vor den Stolpersteinen standen, sagte eine: „Schön, dass wir jetzt endlich wieder alle zusammen sein können.“ Das ist einer der Gründe, warum ich das bis heute mache.

Um Familien zusammenzubringen?
Ich möchte die Menschen und ihre Namen dorthin zurückbringen, wo sie ihr Zuhause hatten. Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen wird. In meinem eigenen Leben habe ich lange Schweigen erlebt: In der Schule wurden die Verbrechen der Nazis nicht behandelt, mein Vater, der im Krieg war, sprach nie darüber. Für mich ist das Erinnern ein Lebenswerk geworden. Und solange meine Knie mitmachen, mache auch ich weiter.

Und danach?
Meine Frau ist 28 Jahre jünger als ich und übernimmt schon jetzt einen großen Teil der Organisation. Ich habe eine Stiftung gegründet und zwei neue Werkstätten eingerichtet, in denen die Steine hergestellt werden können. Die Jungs vom Bauhof können sie dann einsetzen. Denn die Nachfrage nach Stolpersteinen steigt stetig weiter.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false