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Juni und „Ananas“ am Bahnhof Lichtenberg im Jahre 2019

© Robert Klages

Diskussionsabend in Berlin-Lichtenberg: „Obdachlosigkeit wird es immer geben, die Sicht darauf sollte sich ändern“

Der Berliner Senat will Obdachlosigkeit bis 2030 beenden. Unser Autor findet, es sollte sich die Sichtweise auf das Problem ändern und plädiert dafür, lieber übermäßigen Reichtum bis 2030 abzuschaffen.

Ein Essay von Robert Klages

Der Bezirk Lichtenberg ist geprägt durch Obdachlosigkeit. Sicherlich findet man obdachlose Menschen in ganz Berlin, ganz Deutschland und natürlich überall auf der Welt. Aber im Osten von Berlin, besonders in Lichtenberg, hatten sich in den letzten Jahren immer wieder große Camps von obdachlosen Menschen angesiedelt.

Wir denken da in erster Linie besonders an das wohl größte Obdachlosenlager Deutschlands in der Rummelsburger Bucht mit mehr als 100 Personen. Teilweise wuchs das Camp, es kam zu Räumaktionen, es wuchs im Sommer wieder an – bis es im Februar 2021 komplett geräumt wurde.

Eine Neuansiedlung des Camps ist nicht mehr möglich, die Brache wird derzeit bereits bebaut und das Kapitel Obdachlosigkeit an der Bucht dürfte Geschichte sein. Generell werden immer mehr Freiflächen und Brachen, die obdachlose Menschen für Lagerstätten oder kurzzeitiges Campieren nutzen könnten, im Bezirk immer weniger.

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Ein Hotspot war lange Zeit auch der Bahnhof Lichtenberg, hier besonders der Vorplatz und im Winter auch der Innenbereich zur U-Bahn. Ich erinnere mich, als ich dort zum ersten Mal als Journalist eine Gruppe von Personen ansprach, einer von ihnen hieß Juri, wie mein Sohn. Der andere nannte sich „Ananas“ und hatte eine Ratte mit dem Namen „Keine Ahnung“ auf der Schulter.

Der Bahnhof Lichtenberg war für viele Menschen eine Art Zuhause

Der Vorplatz vom Bahnhof war für sie und rund weitere 30 Personen eine Art Zuhause, sie nannten es ihr Wohnzimmer, und hatten es sich gemütlich gemacht. Auch dieses Camp wurde immer wieder geräumt und existiert heute nicht mehr, der Vorplatz wird neu gestaltet. In der Nähe des Bahnhofs wird derzeit ein bundesweit einzigartiges Projekt gebaut: Das Straßenkinderhaus „Butze“ soll helfen, Kinder und Jugendliche von der Straße zu bekommen.

Sind „Safe Places“ eine Lösung?

Ein weiteres, geplantes Camp ist am S-Bahnhof Frankfurter Allee entstanden, am Containerbahnhof, hinter dem Ring-Center. Auch unter der S-Bahnbrücke bilden sich immer wieder Ansammlungen. Seit Jahren gibt es Forderungen, hier und an anderen Stellen sogenannte „Safe Places“ einzurichten, also Orte, an denen obdachlose Menschen in Hütten und Zelten unter Eigenregie und unter den Augen von Sozialarbeiter:innen selbstständig existieren können.

Mit den Brachflächen schwinden die Flächen für obdachloses Leben

Der Bezirk Lichtenberg hätte hier Vorreiter sein können, die Pläne für einen Safe Place an der Frankfurter Allee waren bereits fortgeschritten. Bis heute gibt es jedoch keinen „Safe Place“ im Bezirk. Es kommt auch Kritik an dem Konzept, von der Politik, Obdachlosen selbst und Sozialarbeiter:innen: Das Konzept sei nicht eindeutig und schwer umzusetzen. Was soll das sein, ein „Safe Place“ ohne klare Definition?

Der Berliner Senat hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Obdachlosigkeit in der Stadt bis 2030 zu beenden. Ein ehrbares Ziel, aber kaum möglich. Sicherlich werden in sieben Jahren die meisten Brachen und Freiflächen im Bezirk bebaut sein und große Teile des obdachlosen Lebens aus dem Stadtbild verschwunden sein, allerdings nur scheinbar –denn die Leute werden sich an anderen Orten niederlassen. Ich denke, man muss akzeptieren, dass es Obdachlosigkeit immer geben wird.

Den Menschen eine Wohnung zu verschaffen und sie von der Straße zu holen, sollte die erste Aufgabe der Politik in dieser Angelegenheit sein. Aber es wird immer Menschen geben, die eine Zeitlang auf der Straße leben. Dafür sollte es definierte Räume geben, nicht versteckt irgendwo am Stadtrand, sondern für Obdachlose von Obdachlosen, sicher und sichtbar: Warum nicht am Alexanderplatz, am Ostkreuz, an der Frankfurter Allee?

An Obdachlosigkeit sind, ebenso wie an Arbeitslosigkeit, nicht ausschließlich die davon Betroffenen schuld. Diese Phänomene entstehen aus einem gesellschaftlichen System, dessen Kapitalismus keinen Platz vorsieht für diese Menschen. Es kann uns alle treffen.

Anstatt Reichtum zu verachten, der in seiner Maßlosigkeit oft obszön ist, wird Armut in unserer Gesellschaft verachtet, Reichtum hingegen ist etwas, das angestrebt, vergöttert wird

Tagesspiegel-Autor Robert Klages

Daher sollte sich vielleicht das Mindset ändern: Wer sich die Biografien von obdachlosen Menschen anhört, ihnen zuhört und ihnen glaubt, der erfährt einzigartige Geschichten. Die Wege in die Obdachlosigkeit sind vielfältig, auch wenn sie oftmals etwas mit Alkohol zu tun haben. Es gibt keinen Anlass, diese Menschen zu verachten. Man kann auch mit ihnen, wie mit allen anderen Menschen, schlechte und gute Erfahrungen machen.

Wir sollten nicht nur über sie, sondern auch mit ihnen sprechen. Viele freuen sich darüber mehr als über einen dahingeworfenen Euro. Es gibt schlimmere Dinge als Obdachlosigkeit. Zu große Paläste zum Beispiel, zu reiche Menschen.

Aber anstatt Reichtum zu verachten, der in seiner Maßlosigkeit oft obszön ist, wird Armut in unserer Gesellschaft verachtet, Reichtum hingegen ist etwas, das angestrebt, vergöttert wird. Der Berliner Senat sollte es sich vielleicht zur Aufgabe machen, übermäßigen Reichtum bis 2030 zu beenden. Wer weiß, vielleicht hängen Armut und Reichtum ja aneinander. Armut ist keine Sünde und Reichtum oftmals keine Leistung.

Diskussion über Obdachlosigkeit in Lichtenberg:

Dieser Text ist ein vorbereiteter Redeinput für die Diskussionsrunde „Wie umgehen mit Obdachlosigkeit“ am Montag, 22. Mai, von 18 bis 20 Uhr in der Evangelischen Kirchengemeinde Lichtenberg, Paul-Junius-Straße 75. Nach dem Journalisten Robert Klages werden Politiker:innen, Sozialarbeiter:innen sowie Expert:innen sprechen und im Anschluss mit dem Publikum diskutieren. Mehr Infos zur Veranstaltung hier

Dieser Text stammt aus dem Tagesspiegel-Newsletter für den Bezirk Lichtenberg, hier einige Themen dieser Woche:

  • Rechte Brandserie: Polizei durchsuchte „Kinderzimmer“, Jugendclub erkannte Radikalisierung
  • Gegen die TVO: Protestcamp in der Wuhlheide geräumt
  • Informationsveranstaltung zu Balkonsolaranlagen
  • „Anfänglich wurde ich belächelt und beschimpft“: Eine der letzten Videotheken Berlins hält sich mit veganen Produkten am Laufen
  • Sparta Lichtenberg steigt in die Fußball-Oberliga auf
  • Nun sind 18 Prozent des Bezirks geschützt: 640 Hektar großes Landschaftsschutzgebiet 
  • 670 Jahre Hohenschönhausen 
  • Bürokomplex zu hoch? Warum „B:HUB“ 10 statt 9 Etagen hat

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