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Heinrich von Kleist (18. Oktober 1777 - 21. November 1811) und das „Abendblätter“-Netzwerk in der Sonderausstellung im Kleist-Museum.

© Gordon Welters/Kleist-Museum

Heinrich von Kleists „Berliner Abendblätter“: Dichtung, Wahrheit, Weihnacht

„Schaam, Armuth und Fleiß“ hier, reiche Steuerhinterzieher dort: In seiner Zeitung berichtete Kleist 1810 über eine Weihnachtsausstellung in Berlin und prangerte Steuertricks an.

Von Markus Hesselmann

Polizeimeldungen, Vermischtes, Veranstaltungstipps, auch dafür war der Dichter zuständig. Für die von ihm herausgegebenen „Berliner Abendblätter“, Ausgabe vom 18. Dezember 1810, besuchte Heinrich von Kleist eine „Weihnachtsaustellung“ in der „Kunst- und Industriehandlung, von Mad. Henriette Werkmeister Oberwallstraße No. 7“.

Sein Bericht ist liebevoll detailliert. Besonders angetan hat es ihm: „Ein Korb mit Blumen, in Chenille gestickt, mit einer Einfassung; etwa als Caminschirm zu gebrauchen. Die Stickerei ist, auf taftnem Grund, eine Art von bas relief; ein Büschel Rosen tritt, fast einen Zoll breit, so voll und frisch, daß man meint, er duftet, aus dem Taftgrunde hervor.“

Kleist bleibt nicht beim Offensichtlichen: „Schaam, Armuth und Fleiß haben hier, in durchwachten Nächten, beim Schein der Lampe, die Wände mit Allem was prächtig oder zierlich oder nützlich sein mag, für die Bedürfnisse der Begüterten, ausgeschmückt.“

Der Dichter erkennt den sozialen Aspekt: „Es ist, als sähe man die vielen tausend kleinen niedlichen Hände sich regen, die hier, vielleicht aus kindlicher Liebe, eines alten Vaters oder einer kranken Mutter wegen, oder aus eigner herben dringenden Noth, geschäfftigt waren: und man mögte ein Reicher sein, um das ganze Putzlager, mit allen Thränen, die darauf gefallen sein mögen, zu kaufen, und an die Verfertigerinnen, denen die Sachen doch wohl am Besten stehen würden, zurückzuschenken.“

Laut der Literaturwissenschaftlerin Anna Castelli wird hier „Kleists Haltung zum Luxus“ deutlich, wie auch in einem einige Tage darauf, am 20. Dezember, in den Abendblättern erschienenen „Brief“, in dem sich einer jener Begüterten („beläuft sich meine Livree auf 12 Köpfe“) seinem offenbar ebenso reichen Bruder gegenüber darüber auslässt, wie er eine „Luxusteuer“ mit allerlei Tricks zu hinterziehen gedenkt.

Es ist ein fiktiver Brief, von Kleist selbst verfasst, der ihm die Chance gibt, als „Anonymus“ zu antworten. Kleist fordert, dass derart dreiste, uns bis heute bekannt vorkommende Steuerbetrüger zusätzlich die wegen solcher Täuschungen erhöhten Kosten bürokratischer Aufwände zahlen sollten.

Für Castelli zeigt sich in solchen fiktiven Briefen und deren Beantwortung der „Kommunikationsdrang des Autors, der versucht, mit den Lesern in einen direkten, unzensierten Kontakt zu treten und gleichzeitig indirekt Raum für seinen individuellen Standpunkt zu schaffen“, den er unter den Bedingungen preußischer Zensur sonst nur schwer äußern kann.

Die fiktiven Briefe sind unter den vielfältigen Themen der aktuellen Sonderausstellung des Kleist-Museums in Frankfurt/Oder, Geburtsstadt des Dichters, hier kam er am 18. Oktober 1777 zur Welt. „Zwischen Tinte und Tatsache: Kleists ’Berliner Abendblätter’“ läuft noch bis zum 25. Februar 2024. Neben der Umgehung der Zensur hatten die selbst verfassten „Leserbriefe“ noch einen anderen Zweck: „Kleist erweckte damit den Anschein, dass seine Zeitung Anlass zu Gesprächen gab und ein Ort des Austauschs war.“

Verortet: Wichtige Schauplätze der „Berliner Abendblätter“ in einem Schaubild in der aktuellen Sonderausstellung im Kleist-Museum Frankfurt/Oder.
Verortet: Wichtige Schauplätze der „Berliner Abendblätter“ in einem Schaubild in der aktuellen Sonderausstellung im Kleist-Museum Frankfurt/Oder.

© Gordon Welters/Kleist-Museum

Viel Raum in der Sonderschau nimmt das Thema Zensur ein, als Begriff heute oft leichtfertig verwendet und in soweit verwässert, als damit auch unliebsame, vielstimmige Gegenrede im Diskurs bezeichnet wird, die mit der eigentlichen Bedeutung, dem Eingreifen staatlicher Mächte, gar nichts zu tun hat.

„Supprimierung aller politischen Artikel von itzt an“

Exemplarisch für einen tatsächlichen Eingriff werden die Folgen einer kleinen Meldung (Rubrik „Miscellen“) beschrieben: Darin geht es um französische Truppenverluste, was den französischen Gesandten erzürnt, der sich an den preußischen Außenminster wendet, woraufhin der preußische Zeitungszensor die Abendblätter „um gänzliche Supprimierung aller politischen Artikel von itzt an ersucht“.

Nach „Unterbrechungen und Unruhen“ am Nationaltheater dürfen auch Theaterkritiken nicht mehr gebracht werden. Zum Jahresende 1810 hin geht der Absatz der Abendblätter zurück, nicht zuletzt weil „eine verschärfte Zensur aufregendere Artikel verhinderte“.

Selbst Polizeimeldungen, zunächst Erfolgsgarant und Alleinstellungsmerkmal, sind bald „nicht mehr in den Abendblättern zu finden“ und zuletzt fast nur noch Nachgedrucktes, kaum Eigenes. Mit der Ausgabe vom 30. März 1811 stellt die Zeitung ihr Erscheinen ein.

Es war Kleists letztes Projekt und es war seine letzte Weihnacht. Am 21. November 1811 erschoss der Dichter am Kleinen Wannsee erst Henriette Vogel, die Frau, die mit ihm sterben wollte, und dann sich selbst.

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