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Eine Originalausgabe der Berliner Abendblätter aus der Sonderausstellung im Kleist-Museum.

© Gordon Welters/Kleist-Museum

Zeitungmachen vor 200 Jahren: Die „Berliner Abendblätter“ von Heinrich von Kleist

Die „Berliner Abendblätter“ waren 1810 eine echte Neuheit auf dem Zeitungsmarkt. Ihr Herausgeber, der Dichter Heinrich von Kleist, druckte darin aktuelle Kriminalfälle wie Erfundenes ab – bis die Zensur das Projekt ruinierte.

Ein Gastbeitrag von Milena Rolka

Der Schriftsteller und Zeitungsmacher Heinrich von Kleist, der vor rund 200 Jahren in Preußen lebte, wäre mit Sicherheit fasziniert von der heutigen Presselandschaft: die Masse an Medien, die Vielfalt an Meinungen und Formaten, die Aktualität der Berichterstattung. Was für uns selbstverständlich ist, war im Jahr 1810 kaum denkbar. Mit den „Berliner Abendblättern“ schuf der heute vor allem für seine Theaterstücke bekannte Kleist eine Tageszeitung mit Meldungen, kritischen Debatten und Anspruch auf Popularität. Das Zeitungmachen um 1800 hob er damit auf ein neues Level – zum Teil mit ungewöhnlichen Mitteln.

Die „Berliner Abendblätter“ erschienen im kurzen, aber für das Medium ereignisreichen Zeitraum von Oktober 1810 bis März 1811 täglich außer sonntags und waren schon damit eine Rarität. Als eine der ersten Tageszeitungen im deutschsprachigen Raum erschien sie sechsmal in der Woche mit zum Teil tagesaktuellen Berichten: ein Novum in der Presselandschaft.

Um sich auf dem umkämpften Berliner Zeitungsmarkt als Neuigkeit in Szene zu setzen, versicherte die erste Ausgabe der „Abendblätter“ wortreich, es werde in der Folge „über Alles, was innerhalb der Stadt, und deren Gebiet, in polizeilicher Hinsicht, Merkwürdiges und Interessantes vorfällt, ungesäumten, ausführlichen und glaubwürdigen Bericht“ geben.

Tagesaktuell und sensationell

Den anderen lokalen Blättern mit zwei oder drei Ausgaben pro Woche war Kleists Zeitung damit voraus. Erfolgreich war sie anfangs vor allem dank der Polizeinachrichten, die tagesaktuell von Kriminalfällen in Berlin und Umgebung berichteten. Kleist übernahm sie zu großen Anteilen wortwörtlich aus den Mitteilungen der Polizei und setze sie unter anderem in Extrablättern als „Rapporte“ in Szene.

Gleich die erste, kostenlose Ausgabe enthielt solche exklusiven News aus dem Polizeipräsidium. Seit einer Weile schon versetzten Brandanschläge in der Region die Bewohner in Angst. „Mordbrennerbande“ nannte Kleist die Unruhestifter in seiner Berichterstattung – zu der er, wie die Forschung heute weiß, allerdings auch manches hinzudichtete. Überliefert ist, dass die Bande Wohnhäuser anzündete, um im Chaos der Löscharbeiten wertvolle Gegenstände zu stehlen.

Nur wenige Stunden vor Redaktionsschluss habe sich ein Brand ereignet, heißt es in der ersten Zeitungsausgabe: „In Lichtenberg brennt in diesen Augenblick (10 Uhr Morgens) ein Bauerhof.“ Die zeitliche Nähe zwischen Ereignis und Bericht hebt Kleist spannungsvoll hervor.

Das Sensationelle der Brandstiftung kam dem Herausgeber sichtlich gelegen, sicherte ihm das Treiben der „Mordbrennerbande“ doch das Interesse der Leserschaft. Die „Berliner Abendblätter“ – effektheischender Boulevardjournalismus also? Jein.

Eine Zeitung mit etwas anderen Standards

Dass Kleist damit einer voyeuristischen Lust am Verbrechen Vorschub leistete, reflektieren wir in einer Ausstellung im Kleist-Museum in Frankfurt (Oder), die sich ganz dem Zeitungsprojekt des Dichters widmet. Seine Berichterstattung kann man dort auch in modernen Formen erkunden: Ein an der Wand gestalteter Comic zeigt ein reißerisch aufbereitetes Zeitungsblatt, das plakativ auf Skandal und Angstmache zielt. Klar wird daran schnell: Die „Berliner Abendblätter“ würden die Grundregeln des heutigen Qualitätsjournalismus nicht erfüllen.  

Die „Mordbrennerbande“ würde heute Stoff fürs True-Crime-Genre liefern.
Die „Mordbrennerbande“ würde heute Stoff fürs True-Crime-Genre liefern.

© Studio ZYKLOP

Ungewöhnlich aus heutiger Sicht ist auch, dass Kleist der alleinige Herausgeber war, gleichzeitig Redakteur und Autor der meisten Artikel der Zeitung. Unterstützung und Themen suchte er sich in den Berliner Salons: Hier knüpfte er Kontakte, zum Beispiel zu den romantischen Dichtern Achim von Arnim und Clemens Brentano, und warb (freie) Mitarbeiter an. Ohne die großstädtische Geselligkeit und Salonkultur wäre die Tageszeitung kaum denkbar gewesen. Selbst den Polizeipräsidenten Justus Gruner, der Kleist exklusiv mit Polizeinachrichten versorgte, lernte er vermutlich in einem Salon kennen.

Fenster in die Stadtgesellschaft vor 200 Jahren

In jedem Fall aber erzählen die Dokumente viel über eine vergangene Zeit, und mehr als ihre Verbrechen: Als Hauptstadtjournal kommentierte Kleists Zeitung diverse Berliner Ereignisse und Einrichtungen und beteiligte sich an den regen Debatten der aufstrebenden Großstadt. Manche Debatten befeuerte sie regelrecht, wie die Diskussion um diverse Staatstheorien oder um das Nationaltheater.

Das Theater lag am Gendarmenmarkt, wo heute das Konzerthaus steht, und wurde vom Dramatiker August Wilhelm Iffland geleitet, der dort auch selbst spielte. Das mitten im kulturellen Zentrum gelegene Haus war für viele Berliner ein beliebter Treffpunkt, die Stücke viel diskutiert. Kleist selbst schrieb für die „Berliner Abendblätter“ lustvoll zugespitzte Theaterkritiken.

Heinrich von Kleist wurde 1777 in Frankfurt (Oder) geboren und nahm sich 1811 am Kleinen Wannsee das Leben. Es gibt von ihm nur dieses eine Porträt.
Heinrich von Kleist wurde 1777 in Frankfurt (Oder) geboren und nahm sich 1811 am Kleinen Wannsee das Leben. Es gibt von ihm nur dieses eine Porträt.

© IMAGO/Gemini Collection/IMAGO/Gemini

Zudem nutzte Kleist die Zeitung auch, um seine literarischen Texte, die heute zur Weltliteratur zählen, unter die Leute zu bringen. Als Serie über vier Ausgaben erschien sein Essay „Über das Marionettentheater“. Auch alle seine Erzählungen wurden darin abgedruckt, darunter solche, die pointiert das Berliner Leben einfangen wie „Der Branntweinsäufer und die Berliner Glocken“.D

Das Ende der Zeitung brachte schließlich die Zensur unter Friedrich Wilhelm III. So mussten die eigenen Artikel mehr und mehr Zweitabdrucken aus anderen Journalen weichen. Weil in der Folge das Publikumsinteresse nachließ, wurden die Blätter finanziell nicht mehr tragbar und 1811 eingestellt – ein halbes Jahr, nachdem das Projekt gestartet war.

Wie fanden Zeitgenossen das Blatt? Das geht aus erhaltenen Briefen hervor. Achim von Arnim merkte den unterhaltenden Charakter der Zeitung an: Den Brüdern Grimm schrieb er, es ginge dort weniger um „Belehrung oder Dichtungen“, sondern vor allem darum, „mit allerlei Amüsanten“ die Leser anzulocken. Wilhelm Grimm war über die Polizeinachrichten weniger begeistert, er urteilte in einem Brief an Clemens Brentano: „es ist als ob jemand, der uns raisonabel unterhalten, auf einmal mit seltsamer Vertraulichkeit seine Taschen herauszög, die Brotkrumen herauswischte und die Löcher zeigte, die geflickt, und die Flecken, die müßten herausgewaschen werden.“

Diese Briefe sind bemerkenswert, auch weil wir sonst nur wenig über den Redaktionsalltag oder die Machart der „Berliner Abendblätter“ wissen. Wie hoch die Auflage war, kann nicht rekonstruiert werden. Auch Kleists Leben selbst hat, jenseits seiner Schriften, nur wenige Spuren hinterlassen. Die Originalausgaben seiner Zeitung sind unvollständig erhalten, teilweise sind sie in Privatbesitz.

Ein Highlight der Frankfurter Schau ist deshalb ein Fund, den die Ausstellungskuratorin Viviane Jasmin Meierdreeß im Bibliotheksbestand der Fondation Martin Bodmer in der Schweiz machte: die fast vollständigen Ausgaben des ersten Quartals der „Abendblätter“. Bei einem Autor wie Kleist, der als „überforscht“ gilt, dessen Nachlass also bereits von allen Seiten durchleuchtet wurde, ist das eine kleine Sensation.

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