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Zu Besuch in der „Wilden Mathilde“.

© Robert Klages

Kneipentour im Berliner Nikolaiviertel: Wo Heinrich Zille „sein Milljöh“ studierte

Im Nikolaiviertel, da gehen nur die Tourist:innen aus? Unser Autor testet die Kneipenszene in Berlins ältesten Siedlungsgebiet: vom Paddenwirt bis zur Wilden Mathilde.

Der Zufall und etwas Sinn fürs Ironische führten dazu, dass ich mit drei Freunden einen Abend im Nikolaiviertel verbrachte, auf den Spuren von Heinrich Zille: Gegen 23 Uhr gab es Blutwurst und Cocktails in der Wilden Mathilde, einer pinken, grellen Cocktailbar am Rande von Berlins ältestem Siedlungsgebiet nahe Alexanderplatz.

Auf den Tresen schmiss gerade eine junge Dame ihren goldenen Büstenhalter von sich und ein Mann motivierte die rund 100 Gäste zum Mitklatschen. Ich habe diese Serie „Babylon Berlin“ nie gesehen, aber die Burlesqueshow erinnerte mich an den Trailer. Es liefen allerdings Schlager und 80er-Pop, die Cocktails trugen Namen wie „Trabbi“, „Knutschfleck“ „Schlüpperstürmer“, „Flitzepiepe“ oder „Icke“. Mein Kumpel bestellte dazu Blutwurst (ist er nicht Vegetarier?).

Wir saßen in viel zu großen, blauen Samtsesseln, um uns ein wilder Mix aus Filmszenen, Cupcakes und rosafarbenen Einhörnern, und auf dem Tisch ein Buch: „Jungen in der Pubertät“ – wie sich herausstellte, handelt es sich dabei um die Getränkekarte: Im Inneren des Buches sind die Cocktails aufgelistet.

Wie waren wir nur hier gelandet? Die Touris neben uns schienen sich das auch zu fragen, eine Reisegruppe aus den Niederlanden. Mir war bis zu diesem Moment vollkommen unbekannt, dass es dieses Paralleluniversum nahe Alexanderplatz und Rotem Rathaus gibt. Eigentlich gehen wir in Neukölln, Kreuzberg, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg aus, aber ab und zu sagt jemand: hey, lass uns mal in die oder die Bar am Stadtrand fahren oder so.

Es sind schon legendäre Abende daraus entsprungen. Die Idee mit dem Nikolaiviertel war auf meinem Mist gewachsen, nachdem ich nach einem Besuch im Humboldt-Forum durchs Nikolaiviertel spaziert war. Ich war hier noch nie gewesen und es gab viele Bars, wie in einer Kleinstadt.

Tourist:innen, die in Blutwurst pulen

Der Abend fing gemütlich an mit Berliner Küche im Nußbaum, benannt nach dem davorstehenden Nussbaum. Rustikale Einrichtung, deftiges Essen und zahlreiche Tourist:innen aus Asien, die in Bouletten, Schnitzel und Blutwurst pulten. Heinrich Zille, der ja auch mal in Lichtenberg gewohnt hat, war Stammgast in der Schänke, um hier „sein Milljöh“ zu studieren. Logischerweise hängt heute alles voll mit Zille-Bildern. Derzeit könnte Zille hier nur noch Touris studieren und den ein oder anderen verirrten Berliner.

„Lucke Pils“ in der Schänke „Zum Nussbaum“ im Berliner Nikolaiviertel.
„Lucke Pils“ in der Schänke „Zum Nussbaum“ im Berliner Nikolaiviertel.

© Robert Klages

Wir zogen weiter. Wie in einer Kleinstadt liegen die Lokale keine zwei Minuten voneinander entfernt. Doch das rot-grün blinkende Brauhaus „Georgenbräu“ wollte uns um 21.34 Uhr kein Bier mehr verkaufen. Ausschankschluss. Wir dachten zunächst, es sei ein Scherz vom Kellner, der Laden war voll, und setzten uns. Doch eine Bedienung mit Berliner Schnauze wurde deutlich: Hier gibt es nichts mehr zu trinken für uns.

Nur noch ein Bier beim Paddenwirt

Also gingen wir rüber zum „Paddenwirt“. Aber auch hier wurden wir zunächst abgewiesen und mussten etwas betteln, wenigstens noch ein kleines Bier trinken zu dürfen. „Wenns sein muss, Jungs“, sagte die Thekenkraft.

So wechselten wir in die „Wilde Mathilde“. Mehr als einen Cocktail ertrugen wir dort allerdings nicht und es ging weiter in die „Zille Destille“. Ebenfalls gut gefüllt machte die Kneipe nicht den Anschein, gleich wieder zu schließen. Nicht zu verwechseln mit der benachbarten „Zille Stube“, wo der dichtende Zeichner einmal in der Woche zugegen gewesen sein soll, und die ein „frech-frivoles“ Programm anbietet. Ein Schauspieler kommt jeden Freitag um 19 Uhr vorbei und spielt Zille, auf der Suche nach dem „einfachen Volk“ und neuen Motiven.

Aus dem „schier unendlichen Angebot an heimischen Schnäpsen“ wählten wir Korn. Ein ehrliches Getränk für das einfache Volk. Eine gute Bar, viele Touris, aber auch Einheimische. „Hier treffen sich neben Anwohner des Viertels, Menschen aus aller Welt, um die Wirkung von Zwickel vom Faß in Kombination mit Schnaps auf den Körper auszutesten“, heißt es auf der Website. „In uriger Atmosphäre werden Sie mit Herz und Berliner Schnauze bedient. Egal ob Bauarbeiter oder Studienrat. Keiner geht hier nüchtern nach Hause.“ Ich kann vollumfänglich bestätigen.

Vor der Bar treffen wir dann das „einfache Volk“: Eine ältere Frau, wohnhaft in Lichtenberg, mit einem Plastikblumenkranz um den Kopf, rauchend. Zille hätte aus ihr eine Skizze gemacht, da bin ich sicher. Früher habe man in der Bar rauchen und essen dürfen, klagte sie. Heute würde sie vor die Tür verbannt. Und in Lichtenberg wohnt sie, weil sie aus einem anderen Bezirk verdrängt wurde, Miete zu hoch. „Jawoll, so ist das.“ Immerhin kommt sie mit der U5 vom Roten Rathaus gut nach Hause.

Dieser Text ist aus dem Tagesspiegel-Newsletter für den Bezirk Lichtenberg, hier einige Themen dieser Woche:

  • Nach 20 Jahren Leerstand: Ehemalige Arbeiterhäuser von VEB Elektrokohle werden saniert
  • Bezirkstaler für „Alterspräsident“ des Bürger:innenvereins Fennpfuhl
  • Mutmaßliche Brandstiftung: Zwei Autos brennen komplett aus
  • Plakatwettbewerb für Kinder zum Schutz von Bäumen
  • Ausstellung im Rathaus zeigt Gesichter des Ehrenamts
  • Jazz-Monat im Kulturhaus Karlshorst

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