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Der junge Gelehrte 16-jährig mit Buch im Strandbad Stölpchensee unweit des Wannsees. Im Strandbad Wannsee waren Juden zu dieser Zeit bereits unerwünscht.

© privat, Copyright Andrew Ranicki

Leseprobe „Marcel Reich-Ranicki. Die Biografie“: Literaturbesessenheit und preußisches Ordnungsbedürfnis

Der Kritiker als junger Mann: Leseprobe aus der Biographie von Uwe Wittstock. Es geht um Marcel Reich-Ranickis Leben im Bayerischen Viertel während der Nazi-Zeit.

Was dem oft isolierten Gymnasiasten Reich blieb, waren Kontakte zu anderen jüdischen Jugendlichen, wie zu der zwei Jahre jüngeren Angelika Hurwicz (1922–1999). Sie war die Tochter des Schriftstellers Elias Hurwicz, der mit Marcel Reichs Eltern Bekanntschaft geschlossen hatte. Angelika teilte vor allem Marcels Begeisterung für das Theater, denn sie träumte davon, Schauspielerin zu werden. »Von Zeit zu Zeit trafen wir uns im Stadtpark Schöneberg, wir unterhielten uns lange über die Dramen Schillers und Kleists, über die Angelika ganz gut Bescheid wusste. Dann führte ich sie in das Werk Shakespeares ein, was mir viel Spaß bereitete. Schließlich landeten wir bei Heines erotischer Lyrik. Das war das einzige Erotische, das es zwischen uns gab.« Und auch Marcel gestand ihr seine Zukunftsträume: Er wolle Germanistik studieren und Kritiker werden.

Die beiden Jugendlichen müssen sich gelegentlich besucht haben, denn fünfzig Jahre später, 1985, schrieb Angelika Hurwicz einen Brief an Reich-Ranicki, der manches über die Literaturbesessenheit, aber auch das preußische Ordnungsbedürfnis des Schülers Marcel verrät: »Ich sehe uns noch bei Dir zu Hause (war es die Güntzelstr. im Bayerischen Viertel Berlins?). Du zeigtest mir stolz Deinen Bücherschrank und fragtest mich, ob ich sehen könnte, nach welchen Kategorien Du die Bücher geordnet hättest. Da es sich nicht um eine alphabetische Ordnung handelte, konnte ich zu meiner Beschämung nichts entdecken. Es handelte sich aber, wenn ich mich richtig erinnere, um ›Gebiete‹, also Lyrik, erzählende Prosa usw.« Rund fünfundsiebzig Jahre nachdem Marcel Reich seine kleine Prüfungsfrage an die befreundete Angelika Hurwicz gestellt hatte, wird der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki seinen fünfzigbändigen Kanon der deutschsprachigen Literatur ebenso ordnen wie der Schüler seinen Bücherschrank: Romane, Erzählungen, Dramen, Gedichte und Essays.

Womit die beiden jüdischen Jugendlichen im nationalsozialistischen Deutschland der dreißiger Jahre nicht rechnen konnten, traf ein: Beide machten ihre beruflichen Lebensträume wahr. 1952 begegneten sie sich in Polen wieder, Reich-Ranicki hatte mittlerweile seine ersten Schritte als Kritiker hinter sich, und Angelika Hurwicz war Schauspielerin an Bertolt Brechts Berliner Ensemble geworden, das mit Mutter Courage in Warschau gastierte. Aus Anlass dieses Gastspiels fand, wie Reich-Ranicki in Mein Leben schreibt, in der polnischen »Botschaft der DDR ein Empfang statt. Geladen waren vor allem Kritiker: Man wollte ihnen Gelegenheit geben, mit den Hauptdarstellern zu sprechen. Ich stand in einem nahezu leeren Raum, in dem mich vor allem der Bücherschrank interessierte. Lange konnte ich mich mit den überraschend sauberen Bänden nicht beschäftigen, denn ins Zimmer kam Angelika Hurwicz, geführt von einem Warschauer DDR-Diplomaten. Er fragte artig: ›Darf ich vorstellen?‹ Beide, sie und ich, sagten wir gleichzeitig: ›Ist nicht nötig.‹ Wir haben dann miteinander geredet – ein wenig gleich in der Botschaft, erheblich mehr in den nächsten Tagen.« Angelika Hurwicz hatte Krieg und Holocaust überlebt, indem sie zunächst von einem privaten süddeutschen Wandertheater engagiert worden war und nach der »totalen Mobilmachung« 1944 in einer Autowerkstatt arbeitete. Im Berlin der Nachkriegsjahre machte sie dann als Schauspielerin eine steile Karriere, bevor sie 1958 die DDR verließ und an den Theatern in Westdeutschland, aber auch in Wien und London zunächst als Schauspielerin, später als Regisseurin engagiert wurde.

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