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Marcel Reich-Ranicki 1970 zu Besuch bei seinem Cousin, dem Maler Frank Auerbach, in London. An der Wand ein von Auerbach gemaltes Porträt von Gerda Böhm, der Schwester Reich-Ranickis. Das Privatfoto, schon leicht vergilbt, wurde uns freundlicherweise von Marcel Reich-Ranickis Sohn Andrew Ranicki zur Verfügung gestellt.

© Andrew Ranicki

Nachbarn im Berliner Kiez: Als Marcel Reich-Ranicki der Babysitter von Frank Auerbach war

Der spätere Literaturkritiker lebte in der Güntzelstraße 53, der spätere Maler in der Güntzelstraße 49. Beider Familien waren verwandt, beider Eltern wurden von den Nazis ermordet. Leseprobe aus Uwe Wittstocks Buch „Marcel Reich-Ranicki. Die Biografie“.

Marcel Reich-Ranicki wuchs in einer weit verzweigten deutsch-polnischen Familie auf, in der Kinderreichtum keine Seltenheit war. Seine Mutter Helene hatte sechs, sein Vater David immerhin vier Geschwister. In seiner Autobiografie erzählt Reich-Ranicki, dass er als Schüler in Berlin (er ging zunächst auf das Werner-von-Siemens-Realgymnasium im Bayerischen Viertel und dann auf das Fichte-Gymnasium in Wilmersdorf) gelegentlich von einem seiner Onkel, dem wohlhabenden Ingenieur und Patentanwalt Max Auerbach und dessen Frau Charlotte, als Babysitter engagiert wurde. Eine Aufgabe, der er gerne nachkam, da das Ehepaar über einen reich gefüllten Bücherschrank verfügte: "Es waren wunderbare Abende: Ich konnte mich mit zahllosen Büchern vergnügen und wurde auch noch großzügig entlohnt. Ich bekam für jeden Abend eine Mark und zuweilen, wenn der Onkel kein Kleingeld hatte, sogar zwei Mark. Das Kind wiederum, das ich zu betreuen hatte, ist während dieser Abende kein einziges Mal aufgewacht. Ein vorbildliches Knäblein also – und jetzt einer der berühmtesten Maler Englands: Frank Auerbach

Das Babysitting beim Ehepaar Auerbach war für den damals sechzehnjährigen Marcel Reich nicht zuletzt deshalb reizvoll, weil er im Anschluss keinen langen Heimweg hatte: Auerbachs wohnten in der Güntzelstraße 49, die Familie Reich in der Güntzelstraße 53. 1939, als die Situation für die deutschen Juden immer aussichtsloser wurde, entschlossen sich Max und Charlotte Auerbach, ihren damals noch nicht achtjährigen Sohn Frank in einem Kindertransport nach Großbritannien zu schicken. Zusammen mit fünf anderen jüdischen Kindern verließ er von Hamburg aus per Schiff das Land. Seine Eltern sah er nie wieder. Heute befinden sich vor dem Haus in der Günzelstraße 49 zwei Stolpersteine mit der Gravur: »Hier wohnte Max Auerbach, Jg. 1890, deportiert 1943, ermordet in Auschwitz« und »Hier wohnte Charlotte Auerbach, geb. Borchardt, Jg. 1902, deportiert 3. 3. 1943, Auschwitz, ermordet 30. 6. 1943«.

Andrew Ranicki, Frank Auerbach, Marcel Reich-Ranicki in London-Hampstead 1970 im Garten des Hauses von Gerda Böhm.
Frank Auerbach eingerahmt von Marcel Reich-Ranicki und dessen Sohn Andrew Ranicki 1970 im Garten des Hauses von Reich-Ranickis Schwester Gerda Böhm im Londoner Stadtteil Hampstead. Gerda Böhm, die zu Auerbachs Porträtmodellen gehörte, hat das Foto gemacht.

© Gerda Böhm, Copyright Andrew Ranicki

Frank Auerbach wuchs in England auf und entschied sich, wie seine Mutter, die Kunst studiert hatte, eine Kunsthochschule zu besuchen. 1947 wurde er, mit sechzehn Jahren britischer Staatsbürger. Zwischen 1948 und 1955 war er Student der St. Martin’s School of Art und des Royal Collage of Art, das er mit Auszeichnung und einer Silbermedaille abschloss. Von seinem Studienfreund Leon Kossoff, der heute zusammen mit Francis Bacon, Lucian Freud und Auerbach zur berühmten School of London gezählt wird, übernahm er ein Atelier in London-Camden, in dem er bis heute arbeitet. Nach dem Abschluss des Studiums musste er sein Geld zunächst als Kunstlehrer und Rahmenbauer verdienen, hatte aber schon in den fünfziger und sechziger Jahren regelmäßige Einzelausstellungen in der Beaux Arts Gallery und bei Marlborough Fine Arts in London. 1978 veranstaltete die Hayward Gallery die erste große Retrospektive seines Werks, internationale Anerkennung wird ihm gezollt, seit er 1986 den britischen Pavillon bei der Biennale in Venedig gestaltete und zusammen mit Sigmar Polke den Goldenen Löwen gewann. 2001 ehrte ihn die Royal Academy of Arts in London mit einer umfassenden Einzelausstellung seiner Gemälde und Zeichnungen von 1954 bis 2001.

Der britische Zweig der Familie. Ganz links stehend: Frank Auerbach, über den Marcel Reich in Berlin gelegentlich als Babysitter wachte und der heute zu den bedeutendsten Malern Englands zählt. Vor ihm seine Frau Julia Auerbach, daneben Reich-Ranickis Schwiegertocher Ida Thompson-Ranicki, der Sohn Andrew Ranicki und die Enkelin Carla Ranicki sowie die Schwester Gerda Böhm. Das Bild entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung von Andrew Ranicki dem neuen Buch von Uwe Wittstock, "Marcel Reich-Ranicki. Die Biografie".

© Malcolm Moore

Auerbachs Arbeiten sind figurativ, er konzentriert sich vor allem auf Porträts, die er »Heads« nennt, und auf Stadtlandschaften. Neben seiner Frau Julia gehörte Gerda Böhm, Reich-Ranickis Schwester, lange Zeit zu seinen bevorzugten Modellen. Seine Maltechnik ist eigenwillig, er trägt in zahllosen Arbeitsgängen dicke Schichten von Farbe auf die Leinwand auf, kratzt sie dann zumindest teilweise wieder ab und wiederholt der Malvorgang. Seine Bilder erhalten so einen reliefartigen, fast skulpturalen Charakter. Sowohl Auerbachs Fleiß als auch sein Farbverbrauch sind enorm. Wie Reich-Ranicki ist er von seiner Leidenschaft besessen: Er arbeitet nahezu ohne Unterbrechung bis zu 365 Tage im Jahr, reist fast nie, sogar zu eigenen Ausstellungen nur kurz und ungern, täglich werden ihm, heißt es, bis zu sechzehn Fünf-Liter-Kanister Ölfarbe ins Atelier geliefert.

Wenn Reich-Ranicki nach London fuhr, um seine Schwester oder seinen Sohn zu sehen, suchte er regelmäßig das Gespräch mit seinem Cousin: »Sie haben«, erzählt Andrew Ranicki, »sich immer getroffen und nie verstanden. Frank ist sehr intelligent, kann sehr gut Deutsch. In den Gesprächen mit meinem Vater hat er immer die Position des Künstlers vertreten und mein Vater die des Kritikers. Doch mein Vater verstand zwar viel von Literatur und Musik, aber nur wenig von Kunst. So blieben die Gespräche einseitig.« 2003 fasste Reich-Ranicki seine Sammlung mit Schriftstellerporträts – darunter immerhin gleich zehn Zeichnungen, die Thomas Mann zeigten – in dem Buch „Meine Bilder“ zusammen und widmete es Frank Auerbach. Der habe sich, berichtet Andrew Ranicki, darüber gefreut und den Band gern durchgeblättert, aber keine Abbildung darin gefunden, die ihn als Kunstwerk wirklich beeindruckt habe.

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