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"Dem Deutschen Volke". Vor 20 Jahren zog das deutsche Parlament in den Berliner Reichstag ein.

© Getty Images/iStockphoto

20 Jahre Bundestag in Berlin: Der Reichstag – noch viel mehr als Politik

Vor zwei Jahrzehnten bezog der Bundestag das Reichstagsgebäude. Unsere Autoren erinnern sich an schöne, lustige – und nervige Besuche.

An diesem Freitag ist es 20 Jahre her, dass der Deutsche Bundestag im historischen Reichstagsgebäude in der Mitte Berlins seine Arbeit als Parlament aufnahm – und damit die lange geteilte Stadt vollends wieder zur deutschen Hauptstadt wurde. Seit dem 19. April 1999 ist das einstige Reichstagsgebäude zudem auch ein offenes Haus für die Bevölkerung geworden. Mehr als 30 Millionen Besucher hat der Bundestag seit seinem Umzug in den Reichstag offiziell gezählt. Hier erinnern sich Tagesspiegel-Autoren an besondere Momente im und am neu belebten Parlament.

Warum Caroline Fetscher wegen des Gebäudenamens einen Kulturshock durchlitt

Angekommen in Berlin, im Sommer 1997 aus der diskreten, teils sogar dänisch und britisch geprägten Hansestadt Hamburg, gab es einige Kulturschocks zu bewältigen. Auf den ruppigen Ton in den Behörden zum Beispiel hatten auch vorherige Berlinbesuche nicht vorbereitet.

Doch die stärkste Irritation war das Wort „Reichstag“, das mir beim Radfahren durchs Regierungsviertel begegnete. Reichstag?! Das steht tatsächlich auf den Wegweisern? In Berlin müsste das historische Echo der Bezeichnung doch erst recht bekannt sein

Freilich war es naiv, anzunehmen, der Name des Baus würde öffentlich irgendwie taktvoll umgangen.

Versöhnt mit dem Gebäude hat mich später dann der Blick ins Innere der eleganten, gläsernen Kuppel über dem Plenarsaal. Vierzig Meter Breite, dreiundzwanzig Meter Höhe, dreitausend Quadratmeter Glas addieren sich zu einer starken Aussage, zu Glaskuppelglück.

Dass sich der Ältestenrat des Bundestags 1995 für den Entwurf von Sir Norman Foster entschieden hatte, für derart viel Transparenz und Moderne, schien fast wie ein Wunder. Material und Form wirken, als wollte man dem Rest der Welt versichern: Wir im deutschen Glashaus werfen hier nicht mit Steinen.

Warum Andrea Dernbach den Reichstag nur noch dienstlich besucht

Als wir vor 20 Jahren nach Berlin zogen und die Freundinnen und Freunde sich in Scharen zum Hauptstadtbesuch anmeldeten, gehörte der alte Reichs- und neue Bundestag zu den festen Lieblingszielen. Im Grunde war es die Warteschlange, die anzog, die eigentliche Attraktion, auf die wir auch ein bisschen stolz waren: Leute aus aller Welt standen gemeinsam geduldig an, um unser Parlament zu sehen.

Auf der schönen Freitreppe bibberten wir in Wintern, in denen das Thermometer noch deutlich unter null rutschte, mit der römischen Familie, der badischen Freundin, wir lachten und ratschten. Das Warten war gut angelegte Zeit. Tempi passati.

Seit 2011 verschandelt auch vor dem Reichstagsgebäude Security-Architektur die, die man eigentlich sehen will. Die Containerschlange vor der Treppe – auf allen Fernsehstandbildern zu Recht sorgfältig ausgeblendet – hat die menschliche ersetzt und mir jedenfalls alle Lust auf Spontanbesuche genommen. Die sind ja sowieso abgeschafft, nichts geht ohne Anmeldung.

So wie früher mal eben vom Café auf einen Abstecher zum Bundestag? Gibt’s nich. „Macht mal“, sage ich meinen Gästen seitdem, wenn es sie dorthin zieht. Im Bundestag bin ich nur noch dienstlich.

Die Geschichte der Live-Konzerte

Der Besuchercontainer vor dem Gebäude. Die Sicherheitsvorkehrungen sind mit den Jahren immer strenger geworden.
Der Besuchercontainer vor dem Gebäude. Die Sicherheitsvorkehrungen sind mit den Jahren immer strenger geworden.

© Thilo Rückeis

Warum Ingo Salmen ein Nickerchen im Reichstag empfehlen kann

Was gehört alles zum ersten Mal Berlin dazu? Für Kinder in jedem Fall Doppeldecker oben und U-Bahn fahren, Brandenburger Tor und Fernsehturm. Das alles nahmen wir mit, als Ida, mein Patenkind, im Oktober 2016 mit ihrer Familie bei mir zu Besuch war. Den Zoo haben wir auch geschafft und dann noch eine Familienführung im Bundestag gebucht.

Nun war Ida damals vier Jahre alt, oder wie sie sagen würde: fast fünf. Da ist Berlin noch mal etwas größer, als wir Erwachsenen es erleben. Zum Glück hatten wir einen übergroßen Buggy dabei, in dem sie sich immer wieder ausruhen konnte, wenn ihre kleinen Beine nicht mehr laufen wollten.

Im Reichstagsgebäude waren alle sehr zuvorkommend. Schon beim Einlass wurden wir mit dem riesigen Kinderwagen bevorzugt abgefertigt, manchmal gab es einen Umweg, aber stets einen Aufzug. Idas ältere Schwestern nahmen wie wir Erwachsene viel mit: über die Besonderheiten des Hauses, die Geschichte des Parlaments, die Kunstwerke in jedem Winkel, die Größe des Bundestagsadlers (Dimension: Zwei-Zimmer-Wohnung).

Nur Ida war nach den tagelangen Berlin-Spaziergängen irgendwie zu geschafft. Ob im Keller oder auf der Besuchertribüne: Die meiste Zeit der schönen Führung verpennte sie in ihrem Buggy.

Vom Adler bewacht: Die vierjährige Ida besichtigte den Bundestag im Schlaf.
Vom Adler bewacht: Die vierjährige Ida besichtigte den Bundestag im Schlaf.

© Ingo Salmen

Das verhieß nichts Gutes für den Abend: Als eigentlich Zeit zum Schlafen war, wurde die Kleine plötzlich wieder putzmunter. Sie hatte doch etwas mitbekommen, so schien es mir, als ich sie beim Spielen beobachtete. Ich kann es mir nur so erklären, dass sie bei der Einlasskontrolle hellwach war, denn die ganze Zeit erzählte sie jetzt, wen sie alles beschützen müsste, so als „Ehrendetektiv“.

Ersatzweise schrieb ich über Twitter die Berliner Polizei an, ob sich da nicht was machen ließe. Klar, es seien noch Spielausweise („Nr. 007“) vom Tag der offenen Tür übrig, kam als Antwort zurück. Seitdem sind Ida und ihre Schwestern immer in spezieller Mission unterwegs.

„Ehrendetektivinnen“ dank Spielausweisen der Berliner Polizei: Ida mit ihren Schwestern Hannah und Nora (von rechts).
„Ehrendetektivinnen“ dank Spielausweisen der Berliner Polizei: Ida mit ihren Schwestern Hannah und Nora (von rechts).

© Ingo Salmen

Warum der Reichstag für Richard Friebe Rock&Roll war

Vielleicht war das Reichstagsgebäude gerade während der Zeit, als es nicht im Zentrum einer gesamtdeutschen Demokratie stand, sondern am äußersten Rand des äußersten Außenpostens eines für Freiheit und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten stehenden Systems, besonders wichtig. Für uns Kids in der DDR nämlich sollte der Reichstag offiziell für das reaktionäre Deutschland stehen, und speziell für den Reichstagsbrand und den Beginn der mörderischen Kommunistenverfolgung durch die Nazis.

Tatsächlich aber bekam das Wort „Reichstag“ in den 80er Jahren mehr und mehr eine andere Bedeutung für uns. Reichstag hieß Rock&Roll. Ich kann mich noch an den Abend erinnern, als ich meinen Geracord-Kassettenrekorder an den Staßfurt-Fernseher anschloss und vom Dritten Westprogramm ein Konzert aufnahm, das bald Legendenstatus haben sollte.

Die Ansage „30. August 1980. Rock vor dem Reichstag. Wir präsentieren live, draußen und umsonst: Barcley James Harvest!“ kann ich immer noch auswendig. Und sie verursacht mir noch heute Gänsehaut, auch wenn mir die Musik der damals in Deutschland Superstar-Status genießenden Band heute so gar nichts sagt.

Es war die erste zahlreicher bald als „Mauerkonzerte“ bezeichneter Live-Shows auf der Wiese vor dem historischen Hause in den 80er Jahren. Michael Jackson, Pink Floyd, Genesis, David Bowie und andere folgten. Die Sicherheitskräfte im Osten riegelten dann die Bereiche nahe der Mauer ab, und buchteten Jugendliche, die sich das nicht gefallen lassen und einfach nur Musik hören wollten, ein. Dass bei einem solchen Anlass erstmals – und lange vor 1989 – „Die Mauer muss weg!“ skandiert wurde, wird zumindest berichtet, auch wenn es davon keine Kassettenaufnahmen gibt.

Ein paar dieser Konzerte übertrug der Rias dann sogar live auf Frequenzen, die man fast in der ganzen DDR hören konnte. Ich war ein Dorfjunge irgendwo im Bezirk Erfurt. Aber allein zu wissen, dass der Sound in diesem Moment in Berlin über die Mauer getragen wurde, dass ein paar Jungs und Mädchen wie ich in diesem Moment – egal wie verzerrt oder wummerig oder entfernt – live genau denselben David Bowie hören konnten, den auf jener Wiese Tausende andere Gleichaltrige von der anderen Seite hörten, vermittelte mir ein Gefühl, dass diese Trennung durch den Eisernen Vorhang irgendwie vielleicht doch überwindbar ist. Dass hier zusammen hört, was zusammengehört.

Christo, Jean-Claude und der verhüllte Reichstag

Trutzburg: Grenzsoldaten der DDR 1986 bei einer Patrouille an der Berliner Mauer; im Hintergrund der Reichstag noch ohne Kuppel.
Trutzburg: Grenzsoldaten der DDR 1986 bei einer Patrouille an der Berliner Mauer; im Hintergrund der Reichstag noch ohne Kuppel.

© imago/Sommer

Warum Lars von Törne die Kunstsammlung immer wieder lockt

Blinkende Politik-Installationen von Jenny Holzer, eine vielsagende Skulptur von Joseph Beuys, der von Nagelkünstler Günther Uecker gestaltete Andachtsraum – wer an einer Kunstführung der Bundestagsverwaltung durch das Reichstagsgebäude teilnimmt, kann hier beeindruckende Werke einiger der wichtigsten Gegenwartskünstler entdecken.

Zwei Teile der Sammlung begeistern mich als Comic- und Street-Art-Fan allerdings immer besonders: Die bemerkenswert gut erhaltenen Graffiti, die vor allem russische Soldaten gegen Ende des Zweiten Weltkrieges an den Parlamentswänden hinterließen. Und die langsam, aber kontinuierlich wachsende Sammlung von Comic-Kunst.

Zu Letzterer gehört neben einer gezeichneten Geschichte des Frauenwahlrechts in Deutschland von der Schweizer Autorin Serpentina Hagner vor allem das neue Werk von Simon Schwartz: „45 Leben für die Demokratie“. In ausgefeilten Comic-Kurzgeschichten hat der Hamburger Zeichner hier Menschen porträtiert, die für die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie wichtig waren.

Der Clou: Jede Seite hat ein anderes Erscheinungsbild, das die Besonderheiten der jeweiligen Biografie auch grafisch würdigt. Noch bis zum 31. August können Besucher die vom Bundestag beauftragten Comic-Seiten in der Abgeordnetenlobby bewundern, bevor sie in weniger öffentlich zugängliche Bereiche des Parlaments und ins Archiv wandern. Anmeldungen sind online möglich unter www.bundestag.de/besuche/fuehrung

Warum der Reichstag Claudia Seiring die Tränen in die Augen trieb

Natürlich war ich an jenem Donnerstag dafür, dass Berlin Hauptstadt des vereinten Deutschlands würde. Bonn! Als Rita Süssmuth am 20. Juni 1991 um 21.47 Uhr verkündete, dass die Mehrheit des Bundestages sich für meine Geburtsstadt entschieden hatte, konnte ich es kaum glauben.

Die nächsten Jahre übrigens auch nicht – schließlich dauerte es noch bis 1999, bis der Umzug wirklich vollzogen war. Genauso sehr, wie ich auf die Entscheidung pro Berlin gehofft hatte, wünschte ich mir, dass Christo und seine Frau Jeanne-Claude endlich mit ihren jahrzehntelangen Bemühungen erfolgreich sein würden.

Seit 1971 hatte das Künstlerpaar dafür geworben, den Reichstag verhüllen zu dürfen. Im Februar 1994 stimmte der Bundestag dem Projekt zu. Im Sommer ’95 wurde der Reichstag mit einer silbrig flirrenden Folie verhüllt, zwei Wochen lang leuchtete der glänzende Block im Herzen der Stadt bei strahlendem Sonnenschein und zog Hunderttausende an.

Als ich das erste Mal die neue Haut des alten Gemäuers berührte, schossen mir die Tränen in die Augen. Es war unfassbar, magisch und sehr emotional. Als wäre das riesige Gebäude uns allen zurückgegeben worden – einem geeinten Berlin.

Nicht nur die Kuppel von Norman Foster ist bei Besuchern beliebt, auf dem Dach des Reichstags befindet sich auch das Restaurant Käfer.
Nicht nur die Kuppel von Norman Foster ist beliebt, auf dem Dach befindet sich auch das Restaurant Käfer. Hier ein Bild vom März 1999.

© picture-alliance / dpa / bildfunk

Warum Elisabeth Binder das alte Restaurant vermisst

Am Anfang war ein Besuch im Restaurant Käfer auf dem Reichstag ein Muss. Denn nur mit einer Reservierung dort konnte man die Warteschlange umgehen und direkt hochfahren. Das war bei dem knapp bemessenen Zeitbudget der Freunde aus New York natürlich eine nicht zu unterschätzende Zeitersparnis, die wiederum anderen Sehenswürdigkeiten zugutekam. Auch bei anderer Gelegenheit kam der Trick zum Zuge.

Die Fotos dort oben wurden unvergleichlich schön, denn die Kuppel ist von innen noch fotogener, als sie von unten vermuten lässt. Mal ging es mit Besuchern zum Lunch dorthin, mal zum Nachmittagskaffee, auch mal abends.

Okay, ein wirklich gutes Preis-Leistungs-Verhältnis sah anders aus. Aber die Amerikaner wissen ja: Zeit ist Geld. Und geschmeckt hat es letztlich schon. Seit alle, die hin und wieder nach Berlin zu Besuch kommen, mal dort oben waren, ist das Restaurant ein bisschen aus dem Blickfeld geraten.

Der Umbau vor sieben Jahren sollte, wie Michael Käfer damals sagte, „eines der weltweit schönsten Restaurants am historischen Ort“ noch gemütlicher machen. Aber für ein richtig gemütliches Lokal ist die Lage vielleicht doch zu exponiert und zu kostbar.

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