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Auf der schrägen Bank. Verena Eidel (l.) und Lucia Jay von Seldeneck entdecken gemeinsam Berlin und seine Bewohner.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berliner Originale: Ein Fall für zwei

Lucia Jay von Seldeneck und Verena Eidel haben für den Tagesspiegel monatelang Berliner Originale porträtiert. Heute stellen wir die Autorinnen vor.

Für die meisten Passanten ist es wohl einfach eine Bank, grau, klobig, aus Stein oder Beton – egal. Für Lucia Jay von Seldeneck und Verena Eidel liegt die Sache anders. Die beiden Frauen kreisen an diesem drückend heißen Frühsommertag um das öffentliche Sitzmöbel am Französischen Dom, als hätten sie einen Schatz entdeckt. Immerhin – es gibt hier ein Geheimnis zu lüften: Alle Bänke an der West- und Nordseite des Gendarmenmarkts stehen in Reih und Glied, nur diese eine schert aus. Warum nur? Und warum ist das eigentlich wichtig? „Weil das so gut hierher passt, es hat seinen ganz eigenen Humor, der nicht immer offensichtlich ist.“

Eine Bank als Sinnbild für Berlin also, für das Unerwartbare, Schräge, Rätselhafte, das die Stadt umgibt und das von Seldeneck und Eidel noch immer nicht loslässt, das niemals an Zauber einbüßt. Sonst hätten sie wohl nicht diese Bücher machen können: „111 Orte in Berlin, die man gesehen haben muss“ – zwei Bände gibt es davon. „111 Orte in Berlin, die Geschichte erzählen“. „111 Berliner, die man kennen sollte“ – ein Konzept, das sie in den vergangenen fünf Monaten für die Tagesspiegel-Reihe „Stadtmenschen am Sonntag“ wiederbelebt haben.

"Sie alle haben gemeinsam, dass sie für etwas brennen"

Nicht 111, sondern 21 Porträts haben sie seit Januar zusammengetragen – Lucia mit ihrem in grünes Leder eingebundenen Notizbuch, Verena mit der Kamera, Riesenobjektiv vorne dran. Immer zu zweit, auch um Gedanken hin- und herzuwerfen, Beobachtungen zu teilen. Im Visier: Berliner Originale, in der Regel nicht prominent, was sie aber nicht weniger besonders macht. Einen Kneipier aus Wedding, große Klappe, großes Thekentalent. Eine elfengleiche, liebevolle Dame, Ku’damm-Schickeria mit Hang zu Esoterik und Nächstenliebe. Ein lebendes Schlagzeug aus Lichtenberg. „Sie alle haben gemeinsam, dass sie leidenschaftlich sind, dass sie für etwas brennen“, sagt Lucia Jay von Seldeneck. Nach diesem Kriterium haben sie und Verena Eidel, die sie durch die gemeinsame Arbeit am Heimathafen Neukölln kennt, ihre Stadtmenschen ausgewählt.

Und weil die Liste mit den leidenschaftlichen Berlinern so lang ist und die Liste der Orte, die es noch zu entdecken gilt, solch ein Kribbeln auslöst, machen die beiden nun weiter. Auch ohne Zeitung, ohne Buchdeal. Ihre Sensoren, so beschreiben sie es, sind jetzt aktiviert. „Es macht süchtig. Nach den Treffen und Ausflügen hat man das Gefühl, von einer Reise zu kommen.“

Nie abgeklärt, nie schnodderig - aber echte Berlinerinnen

Von so einer Reise will man natürlich erzählen, und zwar nicht nur den Kindern zu Hause in Kreuzberg, wo von Seldeneck lebt, und im Umland, wo Eidel wohnt. Man will es auch den Mitberlinern berichten, denen, die sich nicht immer die Zeit nehmen wollen oder können, ihre Stadt aufmerksam zu beobachten. Denen, die sich nicht trauen zu fragen. Und sie tun es auch für jene, die vielleicht gar nicht bemerken, dass diese eine Bank am Gendarmenmarkt etwas schief steht – ja, die es nicht einmal bemerken, wenn sie darauf sitzen.

„Entschuldigung“, sagt Lucia Jay von Seldeneck zu der Frau, die gerade auf der Bank hockt und im Schatten der Bäume ein Butterbrot isst. „Entschuldigung, dürfen wir Sie stören? Wir wollen uns diese Bank etwas genauer anschauen.“ Bitte? Große Augen starren durch die Sonnenbrille. „Nun ja, sie steht schief.“ Lachend macht die Frau Platz für die Stadtentdeckerinnen, die sich Sympathien einfach herbeilächeln. Nie abgeklärt, nie schnodderig, nie mit Schnauze. Und doch: Sie sind echte Berlinerinnen, aus Charlottenburg und Zehlendorf, Mitte der siebziger Jahre geboren und – kurze Unterbrechungen ausgenommen – nie weg gewesen. Und wieso sollten sie auch?

Was wird aus Berlin?

„Berlin bleibt ja auch nicht Berlin, hier passiert so viel“, schwärmt Lucia Jay von Seldeneck. Der Hype wird Berlin nicht guttun, fürchtet Verena Eidel. „Der Wildwuchs wird wohl abnehmen.“ Dann also bald „111 Orte, die es nicht mehr gibt“? Ach, sie sehe das optimistischer, sagt Lucia Jay von Seldeneck. Gut, dass es noch so viel zu sehen, aufzuschreiben und zu fotografieren gibt – ab jetzt im neuen Blog „Salon 111“, der Orte und Menschen vorstellen soll, in Texten, Fotos und auf einer virtuellen Karte. Die Freundinnen treiben sich damit an, immer weiterzusuchen. Schließlich kosten ihre Touren viel Energie und Zeit, vor allem die Stadtmenschen. Stundenlang zugucken, zuhören, irgendwann dann auf den Auslöser zu drücken oder über eine schwierige Sache reden. Dabei verfehlen sie nie den Ton, entblößen nie. Keiner ihrer Gesprächspartner hat irritiert auf sein Porträt reagiert, sagen die beiden.

Und darum reicht manchmal auch eine Bank, die Rätsel aufgibt. Hat jemand das tonnenschwere Ding eines Nachts klammheimlich verrückt? „Da hat sich jemand einen Spaß gemacht“, sagt Verena Eidel, „so wie damals, als neben dem Cadillac auf dem Rathenauplatz plötzlich noch ein einbetonierter Trabi stand.“ Lucia von Seldenecks These: „Ich glaube, es war so ein heißer Tag wie heute, die Bauarbeiter haben eine Pause gemacht und die Bank dann einfach vergessen.“ Könnte man nicht jemanden fragen? Bauamt, Ordnungsamt, Bezirk, die Leute aus dem Dom, weiß der Kuckuck. Lucia zuckt mit den Schultern, wieder dieses Zuckerlächeln. „Manchmal sind Geheimnisse doch auch ganz schön.“ Und mit dem Geheimnis der Bank am Gendarmenmarkt beginnt ihr neues Projekt, ihr "Salon 111".

Von den Autorinnen erschien bereits: „111 Berliner, die man kennenlernen sollte“ (Emons Verlag, 230 Seiten, 16,95 Euro). Für den Tagesspiegel haben Lucia Jay von Seldeneck und Verena Eidel noch mehr besondere Berliner ausfindig gemacht, unter anderem: Lizzy Scharnofske, das lebende Schlagzeug - Andreas Zadonai, ein Bäcker der alten Schule - Sinan Simsek, der Buchhändler vom Kotti - Gudrun Schmidt, die Seifenmeisterin aus Friedrichshain - Hanns-Lüdecke Rodewald, der Professor mit dem Moos-Auto -Britt Kanja, Lebenskünstlerin mit einer Vision - Nidal Bulbul, Kriegsreporter und Cafébesitzer am Görli - Helmut Millan, der Rikschafahrer vom Tiergarten - die Floßpiraten aus der Rummelsburger Bucht.

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