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Die Haltestelle Appenzeller Straße.

© Kitty Kleist-Heinrich

Die Station meines Lebens: Erinnerung an die Haltestelle Appenzeller Straße

Neun Quadratmeter Zimmer, 800 Meter außerhalb von Berlin. Die Appenzeller Straße war für unsere Autorin der Ausweg aus der Stadtrandkammer.

Einmal bin ich aus dem Bus gekippt, auf der Heimfahrt von einem Konzert im „Bang Bang Club“ in Mitte. Kurz vor Ankunft schlief ich, sediert von Bier und Geruckel, im Stehen ein, die Stirn an die Bustür gelehnt. Als sie an meiner Station aufschwang, knallte ich flach auf die Goerzallee. Ich weiß noch, dass ich mich peinlich berührt umgeschaut habe. Meine Knie waren aufgeschürft, aber keiner hatte mich gesehen. Natürlich nicht. Immerhin war es Nacht, und ich lebte am Arsch der Welt.

Als ich vor über zehn Jahren zum Studieren nach Berlin zog, war ein Studentenwohnheim in Lichterfelde-Süd meine erste Adresse, Station: Appenzeller Straße, 800 Meter Luftlinie bis zur Stadtgrenze, „Der kleine Autoplatz“ statt Cafés in der Nachbarschaft.

Meine Ziehmutter wurde eine polnische Studentin, die im Zimmer nebenan wohnte, mich „Kindchen“ nannte und ins Herz geschlossen hatte, seit ich mit ihr einen Ebay-Fernseher vom anderen Ende der Stadt in unser Un-Viertel geschleppt hatte.

Ich zahlte 120 Euro Miete, und als Provinzkind machte ich mir um lange Fahrtzeiten keine Gedanken. Außerdem hatten mir meine Eltern jahrelang Räuberpistolen aus ihrem früheren DDR-Wohnheim erzählt, sodass mich auch neun Quadratmeter mit Pressspanmöbeln nicht schreckten. Natürlich fühlte mich wie ein Depp, als ich die billigen Neuköllner Altbauwohnungen meiner Freunde sah. Am Ende aber bin ich eh kaum zu Hause gewesen.

Die Stadt war laut und leuchtend und gut zu mir

Lieber erschloss ich mir die Stadt vom Obergeschoss des Doppeldeckerbusses aus. Noch heute kriege ich Herzklopfen an den unmöglichsten Orten, wenn sie auf meiner alten M85-Route liegen. Zum Beispiel an der Kurfürstenstraße. Dort stieg ich in die U1, um zum Kotti zu fahren, zum „Kptn“ oder in eine andere Bar in der Simon-Dach-Straße.

Auf dem Heimweg wartete ich in Schöneberg zwischen Döner- und Sexshop-Reklame auf den Bus und fror erbärmlich in meinen Stoffturnschuhen. Aber das machte mir nichts aus. Ich war unterwegs, allein und es war spät. Die Stadt war laut und leuchtend und gut zu mir.

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Nach der ersten Euphorie nervte mich meine Stadtrandkammer dann doch. Die Küche sah zum Speien aus, mein Feldbett quietschte, irgendwer ließ ständig die Zeugen Jehovas rein. Mit meiner besten Freundin zog ich in den Wedding.

In Lichterfelde war ich ewig nicht. Vor ein paar Jahren kriegte mein früheres Viertel doch noch seine fünf Minuten. Vor einem Baumarkt hatten sich Rapper Fler und Musikmanager Hadi El-Dor zum Faustkampf verabredet. Am Ende sagten sie das Ganze ab. Vielleicht war es der Weg.

Julia Lorenz

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